Lutz Seiler: „Stern 111“

Gespräch

Nachwendejahre

Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Uwe-Johnson-Preis, 2014 den Deutschen Buchpreis für seinen Roman Kruso und für Stern111 den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 in der Kategorie Belletristik. Hier finden Sie die Internetseite Lutz Seilers »

Lutz Seilers Roman Stern111 führt zurück in die ersten Jahre der Nachwende und erkundet in einem weiten erzählerischen Panorama, was es für den Einzelnen bedeutet haben mag, als die alten Ordnungen und Gewissheiten wegbrachen und neuen Freiheiten Raum gaben. Was lässt sich überhaupt noch vergegenwärtigen? Lutz Seilers Suchbewegung beginnt in Gera. Dort lebt 1989 Familie Bischoff. Zwei Tage nach dem Mauerfall trennen sich die Drei und der Roman folgt in zwei Erzählsträngen ihren unterschiedlichen Wegen. Inge und Walter machen sich auf in den Westen, einem geheimnisumwitterten Traum hinterher. Carl zieht es nach Berlin. Im Osten der Stadt, nahe der ehemaligen Grenze in einer Art Niemandszone, findet er ein Zuhause beim ‚klugen Rudel‘, einer Gemeinschaft von Visionären, Anarchos und Künstlern. Carls Träume sind alles andere als geheimnisumwittert – er möchte Gedichte schreiben und seine große Liebe Effi wiederfinden. Die Kommunikation mit den Eltern beschränkt sich auf Briefe. Aus ihnen erfahren wir von den einzelnen Etappen der großen Reise, die Inge und Walter als Auswanderung bezeichnen.

Am 20. Mai 2020 hätte Lutz Seiler im Oldenburger Musik- und Literaturhaus Wilhelm13 aus seinem Roman „Stern 111“ lesen und mit der Literaturwissenschaftlerin Silke Behl sprechen sollen. Durch die Corona-Krise kam das nicht zustande. Silke Behl und Lutz Seiler haben ihren Austausch stattdessen telefonisch geführt.

Interview: „es geht nie um Rekonstruktion, sondern um die Kraft der Geschichte, die so erzählt werden muss, dass sie ihre eigene Wahrheit entfalten kann. Dafür sind immer nur bestimmte Details brauchbar... das ist der Goldstaub, etwas, das passt"

Entstehung: Erinnerungen und Goldstaub

Seltsam, aber „Stern111“ scheint die erste große Erzählung, in der die spannende Übergangsphase derart präzise und facettenreich ausgeleuchtet wird. Ein solch breit angelegtes literarisches Unternehmen funktioniert nur, wenn starke Triebfedern das Schreiben bestimmen. Können Sie die benennen?

Warum ein bestimmter Stoff in Angriff genommen werden will – schwer zu sagen, vielleicht unbeantwortbar. Dass der Auszug zweier 50-jähriger in die Welt, die Elterngeschichte im „Stern“ also, ein guter Stoff sein könnte, wusste ich, aber das war mehr ein abstraktes Wissen – obwohl ich meine Eltern vor Augen hatte. Aber ich war damals, in den neunziger Jahren, noch lange nicht beim Erzählen angekommen, ich wollte Gedichte, sonst nichts, Gedichte erschienen mir unter allen Umständen das interessantere Genre. Und das ist lange so geblieben. Vielleicht ist es immer noch so. Erst die Essays waren dann eine Brücke zum Erzählen. Der Eltern-Stoff tauchte schon im Umkreis der ersten Erzählungen auf, wollte sich aber nicht fügen. Der Begeisterungsbefehl, der insgeheim auftauchte, wenn es um die sogenannte Wendezeit gehen sollte, schuf eine Art Beobachtungshindernis ... Wie toll und aufregend und einzigartig alles war, und so weiter. Dazu jede Menge fertiger, zu einer Art Geschichtsbild geronnener Bilder, auch in der Literatur. Das machte den Stoff uninteressant und eher abstoßend, von dem ich doch wusste, dass er interessant sein könnte. Das heißt, ich musste konsequent zurück zu den Dingen dieser Zeit: Zur Matratze auf dem Boden, auf der ich in Berlin geschlafen habe, in mein Zimmer und wie es ausgesehen hat – die Bilder meines Zimmers, seine offensichtliche Ärmlichkeit, die Ärmlichkeit der Häuser, die Ruinen waren, all das, und dann die Gefühle, die zu diesem Zimmer, diesen Bildern gehörten, das Sprechen und Gehen in dieser Zeit, die Verse, der Klang, die Geräusche dieser Zeit ... Das war die Hauptarbeit.

Ein anderes Hindernis war die Frage, ob ich über meine Eltern schreiben konnte, sollte, durfte. Das hat mich ein Jahr gekostet, dann entschied ich mich, es nicht zu tun. Dann wollte ich es wieder und hab mich entschlossen, mit ihnen darüber zu sprechen. Wir sind eine Runde über die Felder gegangen, und ich hab’ ihnen erzählt, wie ich es machen würde, was ich von ihrer Geschichte gern benutzen würde, was anders sein würde und was sehr ähnlich – sie waren sehr großzügig, von Anfang an. Es folgten unzählige Gespräche, Telefonate, ich habe meine Eltern dabei neu kennengelernt, würde ich sagen, da ging es mir nicht anders als Carl im Roman. Die Geschichte der Eltern von Carl ist für mich die Basisgeschichte des Romans „Stern111“. Davon abgesehen, herrschte zwischen uns schon immer Klarheit darüber, dass das in meinen Büchern Literatur ist, eine Kunstform.

Dieses konsequente Anschreiben gegen verfestigte Geschichtsbilder und die Beobachtungshindernisse stelle ich mir anstrengend vor. Bevor das – wie Sie sagen – abstrakte Wissen um den guten Stoff konkrete Gestalt annimmt, muss einiges aus dem Weg geräumt werden. Nicht zuletzt auch die Erinnerungen, mit denen jeder von uns normalerweise die persönliche Geschichte überschreibt. Was hat Sie auf diesem Weg am meisten überrascht?

Ohne eigene Erinnerungen wäre es für jemanden, der in dieser Zeit (1989-1994) gelebt hat, wahrscheinlich nicht möglich, ein Buch wie „Stern111“ zu schreiben. Dabei geht es nicht darum, möglichst viele Details zu vergegenwärtigen oder zusammenzutragen, es geht nie um Rekonstruktion, sondern um die Kraft der Geschichte, die so erzählt werden muss, dass sie ihre eigene Wahrheit entfalten kann. Dafür sind immer nur bestimmte Details brauchbar. Oft steckt im Beiläufigen mehr als im sogenannten historischen Ereignis. In den Vorarbeiten, den jahrelangen Notizen und der Recherche für einen Text weiß ich, wenn es sich zeigt, oft sofort, dass ich auf ein solches brauchbares Detail gestoßen bin – das ist der Goldstaub, etwas, das passt, in jeder Hinsicht, nicht nur inhaltlich, auch rhythmisch, in Klang und Sprachgestalt. Am Ende ist es wahrscheinlich etwas beinah Habituelles, man könnte auch sagen: ein Stil.

Können Sie ein Beispiel geben für solch ein brauchbares Detail – für den Goldstaub? Vielleicht sogar eines, bei dem Sie ahnten, wie es die Geschichte vorantreibt?

Das Wort von der „Inobhutnahme“ zum Beispiel – ein Fundstück aus der Wirklichkeit dieser Zeit. Genauer gesagt, dass die bis ins Mark verunsicherten Amtsträger in den Wohnungsämtern Ostberlins im Falle von Hausbesetzungen bereit waren, offizielle Bestätigungen auszustellen, die besagten, dass man diese Häuser „gegen unbefugtes Betreten gesichert“ und „zum Zwecke späterer Wohnungsnutzung“ in Obhut genommen hatte. Die Formulierung von der Inobhutnahme hatte sich auch bei den Räten der Stadtbezirke durchgesetzt. Inobhutnahme: Nicht nur das historische Detail, auch der wunderbare, fast zärtliche, in jedem Fall fürsorgliche Klang dieses Wortes, sein Gestus (seine „Güte“, könnte man sagen) passte wunderbar zur Physiognomie der Figur des Hirten in „Stern111“. Auch die Ironie des Ganzen natürlich. Der Hirte spricht auch nie von „besetzten Häusern“, nur von „bewohnten Häusern“, er verweigert sich diesem Vokabular – und jedem Vokabular, in dem er eine bestimmte Denkart wittert, eine Form von Ideologie. 

Carl, Inge und Walter

Glänzender Goldstaub! Wir sind damit nun bereits mitten in der Geschichte von Carl. Der Hirte hält in Ostberlin das „kluge Rudel“ zusammen, dem sich Carl anschließt. Eine schillernde Truppe von Menschen, die die neuen Freiräume nutzen, um den Traum von Freiheit und Gleichheit zu leben. Eine antikapitalistische Untergrund-Kolchose. Das Zwischenreich im „alten“ Osten, bevor Spekulanten alles plattmachen. Sie kennen die Szene aus eigener Anschauung. Ein Transitraum, nicht mehr und nicht weniger auf dem Weg in die Wiedervereinigung?

Man könnte viele kluge Begriffe über diese Zeit in Anschlag bringen. Ich hatte beim Schreiben keine historische Zuordnung im Kopf, keine Überschrift. Ein Teil der Arbeit war, das nicht zu haben. Ich glaube, es ist beinah unmöglich, nicht über diese Zeit zu schreiben, wenn sie innerhalb der eigenen Biographie liegt und man ein Dichter oder Erzähler ist. Der Zusammenbruch der Ordnung, des herrschenden Systems und seiner das Leben strukturierenden Funktionen ist eine derart elementare Erfahrung ... Eine Erfahrung, die für sich steht und erzählt werden will – als existentielle Erfahrung, nicht als Aufgabe für eine literarische Illustration historisch überlieferter Verläufe – im Sinne von: Ich denke mir mal diese Figur aus, die dann das und das erlebt in dieser sogenannten Übergangszeit, und dann müssen da natürlich bestimmte Ereignisse und Konstellationen enthalten sein und so weiter –  auf diese Weise landet man immer wieder bei denselben Mixturen längst kanonisierter Bilder, bei denselben Geschichten, die am Ende doch wenig erzählen können über das, was unmittelbar geprägt hat, wozu auch die Details gehören: Wie ein Haus ausgesehen hat damals, wie es gerochen hat, wie es war, durch diese Straße, diese Stadt zu gehen, der historische Kurzschluss von 45 und 89, all diese Nachkriegsbilder, all das, was in jene besondere Stimmung mündet, die sowohl Carl als auch das „kluge Rudel“ empfinden, als sie gemeinsam „Es war einmal in Amerika sehen“, bei ihrer ersten Begegnung, hinter der Leinwand im „theater 89“. Ein Film, der in New York spielt und im Grunde nichts mit ihrer Situation in Berlin zu tun hat, aber wie dort über eine Zeit erzählt wird, die für immer vorbei ist, schafft eine unmittelbare Verbindung ... Aber das führt hier zu weit. Carl nennt es das „Vorgefühl einer Legende“, es ist eine Art hochsensibles historisches Bewusstsein innerhalb der Erfahrung vom Zusammenbruch der Ordnung, ein Bewusstsein innerhalb der Situation selbst. Ein Bewusstsein, das noch keine Begriffe hat, beschrieben oder überzeichnet zu werden, aber da ist: äußerst empfindlich, wie eine offene Wunde. Das zu beschreiben, ist literarisch reizvoll.

Sie sagten zu Beginn, dass die Geschichte von Inge und Walter für Sie die Basis des Romans bildet. Die beiden begreifen ihren Weg als Auswanderung, es geht ins Weite. Unbeirrt schlagen sie sich durch die schwierigen Etappen dieses Aufbruchs, folgen ihrem inneren Kompass und machen ganz andere Erfahrungen. Wenn wir vom hochsensiblen Bewusstsein innerhalb dieser Umbruchssituation an sich reden – wie verhalten sich die Geschichten von Carl und seinen Eltern zueinander?
 
Der Weggang, die Auswanderung seiner Eltern ist für Carl ein Rätsel. Er erkennt seine Eltern nicht wieder. Er muss seine Eltern neu kennenlernen, er muss verstehen, dass sie nicht nur diese Eltern seiner Kindheit sind, sondern ganz eigene Menschen mit eigenen Zielen, jenseits ihrer Elternschaft. Dieser Erkenntnisprozess zieht sich durch „Stern111“, das „Elternrätsel“ trägt und strukturiert den Roman. Letztlich ist das eine Emanzipationsgeschichte. Am Ende ist es Carl möglich, seine Eltern tatsächlich zu sehen, sie das erste Mal von außen zu sehen, als andere Menschen, nicht als Kind, nicht in der familiären Perspektive. Teils ist das traurig, er fühlt sich verloren, allein. Andererseits ist das ein gutes, notwendiges Bewusstsein, der Abschluss eines Reifeprozesses, der es ihm ermöglicht, anders in die Welt zu schauen – offener, auch im Umgang mit sich selbst.

Erzählweise

Es wäre schön, wenn wir noch auf die Formen eingehen könnten, in denen die Eltern und Carl ihre jeweiligen Erfahrungen fixieren oder mitteilen. Inge schickt regelmäßig Briefe an Carl, in denen sie über den Fortgang ihrer Auswanderung berichtet, aber alle inneren Prozesse beschweigt. Sind die hochsensiblen Bewusstseinszustände des Einzelnen in der Umbruchphase vielleicht auch generell schwer sprechbar gewesen und verlangten vor allem eines: Respekt vor dem anderen?

Ich finde nicht, dass Inge die Dinge „beschweigt“ – sie bringt, was geschieht, auf ihre eigene Weise zur Sprache, in ihrer eigenen Sprache. Und es gibt eine Entwicklung: Carls Mutter schreibt über Dinge (Gefühle, Erlebnisse), die bisher eben nicht zum „normalen“ Umgang zwischen Mutter und Sohn gehörten, sie vertraut sich Carl an, sie kommt ihm „nah auf eine Weise, die zwischen ihnen ungewöhnlich war“, denkt Carl in „Stern111“. Was dabei bleibt und fortwirkt ist das Rätsel ihres Fortgehens, die Eltern verschweigen Carl, warum sie ausgezogen sind in die Welt und alles zurückgelassen haben. Erst am Ende, bei ihrer Wiederbegegnung in Los Angeles, erfährt Carl die Details. Carl spricht mit seinem Vater in einer Bar, sie trinken und rauchen zusammen, und am Ende wird klar, wie die Dinge liegen und warum dieser zentrale Punkt verschwiegen wurde – werden musste, aus Walters Sicht.

Carl schreibt Gedichte – und zwar zunächst nur für sich. An einer zentralen Stelle im Roman denkt er: „Es ist wirklich schwer, die Dinge zu sehen, die man anschaut.“ Ist das gleichsam die andere Seite der Medaille und das Schreiben für Sie eine Bewegung in diese Richtung?

Nein, eigentlich nicht, solche vor allem aufklärerischen Ziele verfolge ich nicht beim Schreiben. Worum es in der Szene geht, ist, wie Carl es sagt, „die Fremdheit zwischen allem und einem selbst“. Und das ist dann vielleicht schon eine Art Ausgangspunkt, auch für das Schreiben. Eine Art Voraussetzung dafür, diese Welt eigenartig zu finden, herausfordernd, „ein verrücktes Material, guter Stoff, und einen Besseren würde es nicht geben“, denkt Carl.

Zuletzt geändert am 15. Mai 2023