Rassismus, Zukunftsvisionen und der Ausverkauf der Sprache

11.03.2021

Rassismus, Zukunftsvisionen und der Ausverkauf der Sprache

Oldenburg. Das Edith-Russ-Haus für Medienkunst durfte nach Monaten des Lockdowns am 9. März endlich wieder seine Türen für die Besucherinnen und Besucher öffnen. Diese erwartet 2021 ein spannendes und abwechslungsreiches Ausstellungsprogramm. Den Anfang macht die Ausstellung „Das Recht verhandeln − Negotiating the Law“, die vor dem Lockdown nur vier Tage zu sehen war, und deren Laufzeit nun bis zum 28. März verlängert wurde. Der Künstler Mario Pfeifer greift darin das Thema rassistische Gewalt anhand von realen Beispielen vor allem der jüngeren deutschen Geschichte auf und bezieht die Betrachterinnen und Betrachter in den juristischen Aufarbeitungsprozess mit ein.

Im April beginnt mit „Language for Sale“eine internationale Gruppenausstellung, die die Veränderungen der Sprache im Allgemeinen und besonders in der Öffentlichkeit untersucht. Gesellschaftliche Umbruchsituationen spiegeln sich auch immer in der Sprache und vor allem in den letzten Jahren beobachten die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler eine zunehmende Verbreitung von Nonsens-Sprache, sei es in Werbung, sozialen Medien oder im Populismus auf der politischen Bühne.

Im Juli entwickelt die internationale Gruppenausstellung „Infrahauntologies“ Visionen von Infrastrukturen der Zukunft und analysiert gescheiterte infrastrukturelle Projekte der Vergangenheit. Die Visualisierung erfolgt per Video, Game Engine und Multimedia-Installation.

Den Jahresabschluss bildet die Soloausstellung „Basilisk Files“ von Mohanakrishnan Haridasan (kurz: Mochu), die ab Oktober in die Geschichte der visuellen Kultur Indiens eintauchen und die neoreaktionären Tendenzen in Indien und ihre Nähe zu techno-utopischen Idealen untersuchen wird.


Und hier sind die Ausstellungen 2021 im Detail:

Das Recht verhandeln – Negotiating the Law
Soloausstellung von Mario Pfeifer
Mit „Negotiating the Law – Das Recht verhandeln“ will der Videokünstler und Filmemacher Mario Pfeifer zu einer Diskussion über rassistische Gewalt sowie die Bedeutung des zivilen Aktivismus in unserer Gesellschaft anregen. Die Ausstellung zeigt drei Werke Pfeifers: Die großformatige Video-Installation „Again/Noch Einmal“ von 2018 setzt sich mit einem Vorfall in der Nähe von Dresden 2016 auseinander, bei dem Shabaz al-Aziz, ein kurdisch-irakischer Geflüchteter, nach einem Streit mit einer Supermarktkassiererin attackiert und von vier ortsansässigen Männern an einen Baum gefesselt wurde. Bevor der Prozess gegen die vier Männer begann, wurde al-Aziz in einem Wald tot aufgefunden. Pfeifer rekonstruierte das virale YouTube-Filmmaterial des Angriffs auf Shabaz al-Aziz mit der Schauspielerin Dennenesch Zoudé und dem Schauspieler Mark Waschke und lud Menschen verschiedener Nationalitäten – die überwiegend als Migrantinnen und Migranten in Deutschland leben – dazu ein, als Geschworene aufzutreten und Fragen zu unserer Realitätswahrnehmung, zu Medienmanipulationen, zur Justiz sowie zu Gerechtigkeit und Demokratie zu stellen.

Das Werk „#blacktivist“ aus dem Jahre 2015  ist ein Manifest gegen brutale Polizeigewalt, die selektive Anwendung von Gesetzen und den hohen Stellenwert von Selbstverteidigung mit Waffen. Die Arbeit, die Pfeifer zusammen mit der Rap-Gruppe „Flatbush ZOMBiES“ aus Brooklyn konzipierte, integriert filmische Darstellungen von Polizeigewalt – festgehalten von Überwachungskameras und Body-Cams – in die Ästhetik eines konventionellen Musikvideos. Dies wird kombiniert mit Filmmaterial aus dem Internet, das Waffen verherrlicht und Angriffe wie Gegenangriffe zeigt, sowie mit der Dokumentation eines Waffenherstellers in Austin, Texas, der gewöhnliche 3D-Drucker nutzt und dadurch die Gesetze zum Waffenhandel und  -besitz in den USA vor völlig neue Herausforderungen stellt.

Der konzeptionelle Ausgangspunkt der Ausstellung „Das Recht verhandeln“ ist die neue Arbeit Pfeifers „Zelle 5 – 800° Celsius“. Sie beruht auf der künstlerischen Aufarbeitung von forensischen Materialien im zutiefst verstörenden Fall von Oury Jalloh, eines Sierra-Leoners, der in Deutschland Asyl gesucht hatte und 2005 in der Gewahrsamszelle 5 des Polizeireviers Dessau-Roßlau verbrannte.

Ausstellungslaufzeit: 29. Oktober 2020 bis 28. März 2021


Language for Sale
Internationale Gruppenausstellung
Im Mittelpunkt der Ausstellung „Language for Sale“ steht die zunehmende Verbreitung von Nonsens-Sprache als Symptom gesellschaftlicher Umbruchsituationen. Rhetorik war schon immer ein problematisches performatives Genre: Sie kann Menschen inspirieren, überzeugen, aber auch beeinflussen. Die Kultur der politischen Rede erfährt derzeit einen tiefgreifenden Wandel. Offen geführte Debatten und komplexere Argumentationen gehen zurück, die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen sinkt, Misstrauen gegenüber Politik und Journalismus breiten sich aus und ideologische Bekenntnisse und Hate Speech in den Sozialen Medien nehmen zu. Diese Veränderungen gipfeln in der rhetorisch eingesetzten Lüge, die von einer heimlich genutzten Waffe zum offen eingesetzten Propagandainstrument geworden ist.

An dieses eigentlich sehr ernste Thema gehen die Künstlerinnen und Künstler der Gruppenausstellung jedoch mit Humor heran, allen voran Kim Schoen, deren erstmals gezeigte Arbeit „Baragouin“ (= französisches Wort für „unverständliches Kauderwelsch“) den Impuls für „Language for Sale“ gab. In „Baragouin“ gibt die Künstlerin Objekten eine Stimme, die sie in einem Skulpturengeschäft in Los Angeles filmte. Bei diesen Objekten handelt es sich um Nachbildungen von Skulpturen, deren Ursprünge vom Buddhismus über das Rokoko und den Neoklassizismus bis zur Moderne reichen. Schoen geht von der Hypothese aus, dass der internationale Handel eine eigene Lingua franca (=Verkehrssprache) hervorbringt, und inszeniert eine „Nonsens-Oper“, in der die kopierten Skulpturen in Stimmen zu „reden“ scheinen, die auf die Herkunft ihrer vermutlichen Originale verweisen.

Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung: Harun Farocki, Nicoline van Harskamp, Stefan Panhans, Elemér Ragály, Peter Rose, Kim Schoen, John Smith.

Ausstellungslaufzeit: 22. April bis 13. Juni 2021


Infrahauntologies
Internationale Gruppenausstellung
Die Ausstellung „Infrahauntologies“ beschäftigt sich mit Infrastrukturen in Architektur, Städtebau, Politik, Kommunikation und digitalen Systemen. Acht Künstlerinnen und Künstler beziehungsweise Kunstkollektive entwerfen Zukunftsvisionen, zum Beispiel die in der Wüste neu geplante Hauptstadt Ägyptens als Computerspiel und die Anpassung der Stadt Miami an steigendende Meeresspiegel, oder untersuchen gescheiterte Gesellschaftsvisionen der Vergangenheit, um aus dem Zusammenbruch zu lernen und dadurch neue Möglichkeiten für Infrastrukturen der Zukunft zu entwickeln. Sie verwandeln die bürokratische Sprache von EU-Amtsblättern in künstlerische Formen und träumen von einer ganz neuen Ökonomie der Kunst. Die in der Gruppenausstellung gezeigten Werke reichen von Videos über Game-Engine-basierte Arbeiten bis hin zu Multimedia-Installationen.

„Infrahauntologies“ wird von Bassam El Baroni (*1974 in Ägypten) kuratiert. Er ist Assistenzprofessor für Kuratorische Praxis und Kunstvermittlung an der School of Arts, Design and Architecture der Aalto Universität in Helsinki/Finnland und beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit Themen an der Schnittstelle von Kunst, Technologie, Politik und Philosophie.

Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung: A.S.T. (Diann Bauer, Felice Grodin, Patricia Margarita Hernandez, Elite Kedan), Bassam El Baroni und Constantinos Miltiades (in Zusammenarbeit mit Georgios Cherouvim und Gerriet K. Sharma), João Enxuto und Erica Love, John Gerrard, Assem Hendawi, Bahar Noorizadeh, Vermeir & Heiremans

Ausstellungslaufzeit: 8. Juli bis 3. Oktober 2021


Basilisk Files
Soloausstellung von Mohanakrishnan Haridasan (Mochu)
Der 1983 in Indien geborene Mohanakrishnan Haridasan (Mochu) arbeitet mit Video und Text in Form von Installationen, Vorträgen und Publikationen. Technisch-wissenschaftliche Fiktionen spielen in seiner Praxis eine wichtige Rolle, die sich oft mit Situationen oder Figuren aus der Kunstgeschichte und Philosophie überschneiden. Als Stipendiat für Medienkunst der Stiftung Niedersachsen am Edith-Russ-Haus 2020 erarbeitet er für seine Ausstellung eine Mehrkanal-Videoinstallation mit dem Titel „Basilisk Files“, die die historisch weit zurückreichenden Grundlagen der neoreaktionären Tendenzen in Indien und ihre Nähe zu techno-utopischen Idealen in den Fokus rückt. Das Projekt wird untersuchen, wie die antiegalitären, futuristischen Ideen des amerikanischen Software-Entwicklers Curtis Yarvin und des britischen Philosophen Nick Land nachträglich in das mythologische Universum des hinduistischen Denkens integriert wurden. Es wird weiterhin der Frage nachgehen, wie diese Ideologien zunehmend instrumentalisiert wurden, um über das Internet die Emotionen der indischen Öffentlichkeit zu manipulieren. Im Ausstellungsprogramm des Edith-Russ-Hauses steht sie in engem Zusammenhang mit der Ausstellung Szabolcs KissPáls „From Fake Mountains to Faith“, die sich 2016 mit der Mythologie der ungarischen Rechten beschäftigte.

Ausstellungslaufzeit: 28. Oktober 2021 bis 2. Januar 2022