2016/17 – Marion Poschmann

Literarisches Reisetagebuch

Marion Poschmann war zweite Landgang-Stipendiatin

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Marion Poschmann erhielt 2016 vom Literaturhaus Oldenburg das zum zweiten Mal auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg vergebene Landgang-Stipendium, ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land. 

Marion Poschmann wurde 1969 in Essen geboren. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik. 1994 nahm sie zudem ein Studium für Szenisches Schreiben an der Berliner Hochschule der Künste auf. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und ist Mitglied der Mainzer Akademie für Wissenschaften und Literatur sowie im P.E.N. Sowohl für ihre Prosa als auch ihre Lyrik wurde Marion Poschmann vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und dem Peter-Huchel-Preis.
 
Mit dem Projekt „Literarischer Landgang“ gehen die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg und das Literaturhaus Oldenburg als Partner einen neuen Weg in der Literaturförderung, der einen deutlichen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont.

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der zweiten Durchführung des Projekts waren das Industrie Museum Lohne, das Schifffahrtsmuseum Unterweser in Brake, das Museumsdorf Cloppenburg, das Schlossmuseum Jever in Kooperation mit den Horumersieler Literaturtagen, der Bahnhofsverein Westerstede und die Städtische Galerie Delmenhorst.

Marion Poschmanns Erkundungstour und literarisches Reisetagebuch

Im September 2016 unternahm Marion Poschmann die Erkundungsreise des „Literarischen Landgangs“, die sie in sieben Landkreise und kreisfreie Städte des ehemaligen Landes Oldenburg führte: Lohne, Cloppenburg, Oldenburg, Delmenhorst Brake, Jever und Westerstede.
Marion Poschmann führte die Rundtour auf eigenen Wunsch nicht mit einem Mietwagen, sondern mit dem Fahrrad durch. Die Passagen zwischen den Stationen gewannen so an Bedeutung, weil die Schriftstellerin die Entfernungen körperlich erfuhr und des Reisetempos wegen viel Zeit hatte, den Blick unterwegs in die Landschaften zu richten.

Auf der Grundlage dieser Radtour schrieb Marion Poschmann ein Reisetagebuch. Als Vorbild führt sie im Prolog ihres Textes das Tagebuch eines japanischen Schriftstellers an, das als eines der bekanntesten Reisebücher der Weltliteratur gilt: Bashos Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. „Ich werde also“, formuliert Poschmanns Text, „wie Basho in den wilden Norden meines Landes reisen. Schmale Pfade, Radwege, Hinterland, stürmische Nordsee, alles ist stimmig“. In Anlehnung an eine japanische Art der Reisebeschreibung, die Haibun genannt wird, hat sie dem Prosatext ihres Reisetagebuchs eine Reihe von Gedichten angeschlossen.
In der Reiseliteratur Asiens, so Marion Poschmann, herrsche die Ansicht, dass jeder Reise unabhängig von ihrer Dauer die Ernsthaftigkeit einer Lebensreise zugemessen werden könne. Von keiner Reise, dauere sie auch nur sieben Tage, komme man als dieselbe zurück. „Nach einer Woche im Oldenburger Land bin ich ruhiger geworden“, bilanziert ihr Text. „Mein äußeres Tempo war vom Fahrrad vorgegeben, mein inneres Tempo hat sich der Landschaft angepasst.“ 

Marion Poschmanns literarischer Reisebericht wurde in der Anthologie Fünf Landgänge » veröffentlicht. 

Marion Poschmanns Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg

Ihr Reisetagebuch aus Prosa und Lyrik stellte sie vom 16. Mai bis zum 1. Juni 2017 bei öffentlichen Literaturveranstaltungen vor. Die vom Literaturhaus Oldenburg konzipierte und organisierte Lesetour führte sie erneut zu den sieben Stationen, die sie im September des Vorjahres als Stipendiatin bereist hatte. Monika Eden, die Leiterin des Literaturhauses, begleitete sie als Moderatorin und sprach mit ihr über ihre Reise und ihren Text, von welchem Marion Poschmann je nach Veranstaltungsort ausgewählte Passagen vorlas. 

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Marion Poschmann bei der Lesung in Oldenburg:

Marion, im Prolog berufst du dich auf einen japanischen Dichter, der vor langer Zeit ein Reisetagebuch geschrieben hat. Wie alt ist der Text und was hat es mit diesem Basho auf sich?

Das ist ein Text, der ist bereits 500 Jahre alt, also wirklich ein Klassiker der Literatur. Ein japanischer Text. Und in Japan hat dieses Buch, würde ich sagen, eine Stellung wie bei uns Goethes „Faust“. Ich stieß während eines Aufenthalts in Japan auf diesen Reisebericht. Besonders interessant für mich als Schriftstellerin war die Tatsache, dass es sich bei dieser beschriebenen Tour um eine Art dichterischen Pilgerpfad handelt. Schon 500 Jahre vor Bashos Zeiten, also von uns aus gerechnet vor ungefähr 1000 Jahren, wurde die Strecke schon von dichtenden Mönchen bewandert, von Schriftstellerpilgern. Man hielt dabei an besonders schönen, landschaftlich bedeutsamen Stellen, an wichtigen Tempeln an und verfasste dann, wenn es einem gelang, ein Gedicht auf diesen Ort. Diese 1000-jährige Tradition haben dann einige Dichter fortgesetzt und so handelt es sich bei den Stationen der Reise um Orte, die immer wieder literarisch überschrieben worden sind. Und ja, wenn man als Dichter etwas auf sich hielt, kannte man natürlich auch die Texte, die vor einem dort entstanden waren und hat sich darauf bezogen. Man hat sich auf die konkrete Situation vor Ort bezogen und daraus entstand dann immer wieder ein neues Gemisch aus Erlebtem und aus Literatur.

Da muss ich jetzt überlegen, ob ich ein bisschen gekränkt sein soll, denn das klingt eigentlich wie das Konzept für den „Literarischen Landgang“ und ich habe bisher angenommen, das sei meine Idee gewesen. Ich wende es jetzt mal ins Positive und stelle mir vor: 
Dieses Projekt „Literarischer Landgang“ soll auch in den kommenden Jahren fortgesetzt werden. Und wenn es uns gelänge, auch eine solche Tradition zu begründen, dass nämlich die Schriftsteller, die wir einladen, immer wieder dieselben Stationen besuchen …
Das liegt in der Natur des Projekts, die Schriftsteller werden alle im Oldenburger Land reisen und alle Texte schreiben, die irgendwann veröffentlicht werden sollen. Wir denken an eine Buchpublikation etwa nach den ersten fünf Jahren, das heißt, dann können nicht nur interessierte Leser, sondern auch andere Schriftsteller die Texte ihrer Kollegen lesen. 
… vielleicht hat sich dann ja – ich mach’s jetzt mal etwas kleiner – in 50 Jahren auch eine Tradition des Schriftsteller-Tourismus, des Literatur-Tourismus entwickelt, die dazu führt, dass alle Schriftsteller, die jetzt ja schon sagen „Oldenburger Land? Klar, da kann man hinreisen, gute Idee!“, dann vielleicht sogar gerne kommen, um sich auf den Spuren der Schriftsteller zu bewegen, die vor 50 oder vielleicht auch nur vor 10 Jahren hier waren. Vielleicht gibt es dann auch in im Oldenburger Land solche Stellen, wo Texte in Stein gemeißelt werden. 
Das ist eine so schöne Vorstellung, dass ich sofort bereit bin, Basho als Gründervater des „Literarischen Landgangs“ zu adoptieren, ihn fortan sogar zu zitieren und mich auf ihn zu berufen, auch wenn ich dann als Urheberin des Konzepts ein bisschen in den Hintergrund rücke.


Der Prolog formuliert nicht nur, was die Schriftstellerin sich für den „Literarischen Landgang“ vorgenommen hat und auf wen sie damit Bezug nimmt, sondern er offenbart bei aller in Aussicht gestellter Ernsthaftigkeit – das ist zumindest mein Eindruck – auch eine feine Ironie. Denn immerhin hat Marion Poschmann ihr Leben nicht aufs Spiel setzen müssen, um in den wilden Norden ihres Landes zu reisen. Ironie schafft immer auch eine gewisse Distanz. Warum war oder ist sie dir, Marion, für den Einstieg in deinen Text wichtig?

Tatsächlich schafft Ironie Distanz. Das ist ja ein ganz besonderes Stilmittel. Man sagt etwas und meint gleichzeitig auch das Gegenteil. Es ist eine Form des Sowohl-als-auch. Man legt sich nicht wirklich fest. Man hält sich ein bisschen ein Hintertürchen offen. Das habe ich für den Einstieg vielleicht auch deshalb gewählt, um mich gegen potenzielle Vorwürfe abzusichern. Denn bei so einer Lesetour besteht ja eine gewisse Erwartungshaltung des Publikums. Man kommt als Autorin für einen Tag an einen Ort und macht da bestimmte Beobachtungen. Manche Beobachtungen macht man auch nicht. Jetzt haben wir den Text schon an mehreren Stationen vorgestellt und tatsächlich kamen hier und da kleine Beschwerden: „Warum haben Sie gar nichts über die Kirchen geschrieben?“, „Es kommen keine Menschen vor“, „Es kommt Verschiedenes überhaupt nicht vor“, „Was ist mit den Löwen vor dem Schloss in Jever?“ Also manches habe ich einfach nicht erwähnt und mir vorbehalten, einen ganz subjektiven Blick zu pflegen und dann das zu schreiben, was mich persönlich interessiert, ganz abgesehen von dem, was ich tatsächlich auch noch alles hätte schreiben können. Also: Dass ich mich einfach auf manches konzentriere.


Der erste Text zu Lohne gefällt mir so gut, weil er sehr persönlich wird. So persönlich, wie danach keine Passage mehr. Und er führt das schreibende Ich direkt in die eigene Kindheit zurück. Ich sage an dieser Stelle noch das „schreibende Ich“, weil ich finde, da besteht noch ein gewisser Klärungsbedarf. Es gibt auch ein privates Tagebuch, das Menschen vielleicht noch für sich selbst schreiben. Wenn man in einem solchen Tagebuch „ich“ schreibt, meint man damit immer sich selbst. Marion Poschmann ist eine Schriftstellerin, die sonst Romane veröffentlicht, die Lyrik schreibt, und wenn in einem Roman eine Figur „ich“ sagt, dann ist dieses Ich nicht mit der Schriftstellerin gleichzusetzen. Im Reisetagebuch schreibst sie als Autorin „ich“ und deshalb habe ich mich gefragt, ob ein Reisetagebuch zwingend zu autobiografischem Schreiben führt und wie literarisiert so ein Format eigentlich auch sein kann. 

Allgemein ist ein literarischer Text ja immer in irgendeiner Form eine Mischung aus Autobiografie und Fiktion. Das kann man mehr in die eine Richtung gewichten und mehr in die andere. Wenn ich Romane schreibe, dann ist das etwas stärker von mir abgerückt. In den Tagebuchtexten ist es schon etwas näher an dem erlebenden Ich Marion Poschmann dran, denn ich habe diese Reise tatsächlich gemacht, ich habe sie mir nicht ausgedacht – was ich auch hätte machen können. Aber mir war wichtig, dass es in diesem Text tatsächlich um meine Eindrücke bei der Reise durch diese Landschaft geht, um die Konfrontation mit dem, was mir auf dieser Fahrt entgegenkommt. Ich wollte gerne die Eindrücke des Augenblicks ein bisschen einfangen. Deshalb sind es manchmal wie zufällig wirkende Passagen, Dinge, die ich nicht alle vorhergeplant habe. Ich habe über Stellen, Stationen geschrieben, die ich vorher geplant habe, und dann war mir aber auch wichtig, dass eine gewisse Offenheit besteht für das, was einfach passiert – oder vielleicht auch nicht passiert.


Du hast die Gedichte nicht in den Text eingefügt, wie beim japanischen Haibun, du hast sie dem Text angeschlossen. Sind die Gedichte die Fortsetzung des Textes? In welcher Reihenfolge sind Text und Gedichte entstanden?

Ich hatte eigentlich den Plan, eine Mischung aus Prosa und Lyrik zu machen, so wie sie in dem japanischen Vorbild, auf das ich mich stütze, auch ist. Dort gibt es zu jeder Station eine kurze Beschreibung in Prosa „Wir waren jetzt an dem so-und-so Tempel“, und dann kommt noch mal ein kleines Gedicht, ein dreizeiliges Haiku. Manchmal auch noch ein Haiku von dem Reisebegleiter. So hatte ich mir das auch vorgestellt. Ich dachte: Abends im Hotel schreibe ich dann immer noch mal schnell ein kleines, dreizeiliges Gedicht. Aber eigenartigerweise: Gedichte stellen sich ja entweder ein, oder sie stellen sich nicht ein. Und während dieser Reise ist es mir nicht gelungen, auch nur eine Gedichtzeile zu verfassen. Da habe ich dann nur die Notizen gemacht und danach zuhause die Prosatexte geschrieben. Erst ziemlich lange danach – ich dachte auch erst, „Naja, vielleicht lasse ich das mit den Gedichten ganz, muss ja auch nicht sein“ – habe ich dann aber noch zu jeder Station ein Gedicht geschrieben. Diese Gedichte sind im Grunde etwas literarisierter als die anderen Texte.


Deine Beobachtungen sind sehr sensibel und sehr genau. Sie reichen bis in die gesellschaftspolitische Analyse. War das dein Ansatz?

Ich wollte hier durch die Gegend fahren und mich auf die Landschaft konzentrieren und schauen, was sagt mir diese Landschaft eigentlich. Es kam jetzt immer wieder der Begriff „Natur“ in diesem Zusammenhang auf. Mich beschäftigt in meinen Texten eigentlich oft die Frage, was ist eigentlich Natur, was verstehen wir unter Natur, gibt es überhaupt noch Natur, wie greift der Mensch in Naturräume ein? Das ist ja in unserer Zeit eine Mischung, da kann man kaum noch unterscheiden zwischen naturbelassenen Landschaften und Kulturlandschaften. Es gibt eigentlich nichts Ursprüngliches in diesem Sinne mehr. Dadurch dachte ich: Naja, durch den Blick auf die Landschaft erfährt man ja auch sehr viel über die gesamte Gegend, über die Geschichte, über das, was Menschen hier über Jahre und Jahrhunderte geschaffen haben. Und natürlich hat das immer auch eine politische Dimension. Und je genauer man hinschaut, desto mehr sieht man durch den Augenschein, ohne, dass man sich unbedingt vorher etwas anlesen muss. Obwohl das natürlich nicht schadet. Also, es ist immer auch eine Mischung aus dem, was man vorher weiß, und dem, was man dann an Natur wiedererkennt.


Weil ich jetzt weiß, dass es auch Kulturkreise gibt, in denen der Begriff des Faden so positiv besetzt ist, bekomme ich geradezu Lust, mich auf die Spur des Faden zu setzen. Nicht nur in Oldenburg und im Oldenburger Land, sondern vielleicht demnächst auch, wenn ich in Regionen fahre, in Städte fahre, die ich noch nicht kenne. Was müsste ich dann machen, um das Fade zu entdecken. Wonach muss ich schauen oder wonach soll ich nicht gucken?

Das Fade ist ja etwas sehr Subtiles, was man nur schwer erhaschen kann. Das Spannende an diesem Faden ist, dass es eigentlich fast weniger um den Blick nach außen, als vielmehr um den Blick nach innen geht. Der Blick auf das Fade ist immer auch eine Form der Selbstreflektion, der Selbsterkenntnis. Wenn man einen besonders prominenten Gegenstand betrachtet, wie, sagen wir mal im Zusammenhang mit Reisen, den Eifelturm, dann ist man immer auf das Objekt fixiert und sieht sich dessen Eigenschaften an und dabei bleibt es dann in der Regel auch. Aber wenn man eine nicht ganz so spannende Sache betrachtet, die zumindest auf den ersten Blick nicht so spannend ist, wie eine einfache Wiese, ein abgeerntetes Feld oder dergleichen, dann kommt man ziemlich schnell dazu, dass man auch mit sich konfrontiert ist. Dass man sich fragt: Was sehe ich hier überhaupt? Ist das eigentlich interessant? Ist das nicht vollkommen langweilig? Oder ist es gerade deswegen etwas in irgendeiner Form Bemerkenswertes? Dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst soll dann nach der ostasiatischen Theorie zu einer, ja, im Grunde einer Form der Selbsterkenntnis führen.

Zuletzt geändert am 15. Mai 2023