2019/20 – Judith Hermann

Reiselogbuch mit Zeichnungen Andreas Reibergs

Judith Hermann war fünfte Stipendiatin

2019 war Judith Hermann Stipendiatin des Literaturhauses. Die Schriftstellerin erhielt auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium: ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land, das einen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont. Es wird seit 2015 jährlich an eine renommierte deutschsprachige Schriftstellerin oder einen renommierten deutschsprachigen Schriftsteller vergeben und führt die Stipendiatinnen und Stipendiaten in Landkreise und kreisfreie Städte des ehemaligen Landes Oldenburg.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt Sommerhaus, später (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis.

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der fünften Durchführung waren das Schlossmuseum Jever, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch in Kooperation mit dem Kulturzentrum Seefelder Mühle, die Städtische Galerie Delmenhorst, der Bahnhofsverein Westerstede und das Museumsdorf Cloppenburg.

Judith Hermanns Erkundungstour und Reiselogbuch mit Zeichnungen

Vom 16. bis zum 23. September 2019 unternahm Judith Hermann im Rahmen des Landgang-Stipendiums ihre Erkundungsreise durch das Oldenburger Land: Die für sie geplante Tour begann in Wilhelmshaven, dann führte sie nach Jever, Westerstede, Cloppenburg, Delmenhorst, Nordenham und Oldenburg. Anders als die bisherigen Stipendiatinnen und Stipendiaten war Judith Hermann schon vor ihrer Landgang-Reise mit Teilen des Oldenburger Landes vertraut. Ihr Ur-Urgroßvater war Leuchtturmwärter auf Wangerooge. Ihre Großmutter lebte in Horumersiel. Noch heute ist ihr Haus, das in der direkten Blickachse des Leuchtturms liegt, im Familienbesitz. Auch wegen dieser viel zu großen Nähe zu Teilen der Region ließ sie sich bei der Landgang-Reise von dem Zeichner Andreas Reiberg begleiten, der in seinem Medium künstlerisch auf die Reise reagieren sollte. Die Bitte um Begleitung erwies sich als vorzügliche Idee: Der zweifache Blick, die doppelte Wahrnehmung und deren Überführung in Text und Zeichnung bereichern und erweitern den Text Judith Hermanns zu einem künstlerischen Dialog.

Ein graues Notizbuch und ein schwarzgebundenes Skizzenbuch waren die ständigen Begleiter Judith Hermanns und Andreas Reibergs. Er fertigte Zeichnungen an, die Schriftstellerin machte sich Notizen. Erst in den Monaten nach der gemeinsamen Fahrt, als die Arbeit am Text abgeschlossen war, tauschten sie sich über ihre verschiedenen Zugriffe aus. Und stellten erstaunt und beglückt fest, wie oft sie unabhängig voneinander, aber doch in Übereinstimmung das Wahrgenommene festgehalten hatten. Dabei stehen Text und Bild gleichwertig nebeneinander. Das Reiselogbuch trägt den Titel Land, Kreise, Ziehen, Weiterziehen.

Judith Hermanns Reiselogbuch mit Zeichnungen Andreas Reibergs wurde in der Anthologie Fünf Landgänge » veröffentlicht. 

Lesereise der Kulturstiftung Öffentliche Oldenburg

Judith Hermann trat die Reise durch das Oldenburger Land ein weiteres Mal an, um das Reiselogbuch Land, Kreise, Ziehen, Weiterziehen an den sieben Stationen ihrer Erkundungstour vorzustellen. Diese ursprünglich für den Juni 2020 geplante Lesereise musste wegen des Coronavirus verschoben werden. Judith Hermann war bereit, die Lesungen in der zweiten Jahreshälfte nachzuholen. Sie fanden im September und Oktober 2020 statt, Monika Eden begleitete Judith Hermann als Prokjektleiterin und Moderatorin. In Lesung und Gespräch erfuhren die Besucherinnen und Besucher, wie die Region, die sie selbst aus unmittelbarer Nähe kennen, erlebt und künstlerisch verarbeitet wurde. Bei jeder Lesung stellte Judith Hermann die Textpassage vor, die am jeweiligen Veranstaltungsort angesiedelt ist. Durch angefertigte Leporellos mit einer Auswahl der Zeichnungen von Andreas Reiberg und des Textes von Judith Hermann erhielten die Besucherinnen und Besucher Einblick in das Zusammenspiel aus Bild und Text. 

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Judith Hermann bei der Lesung in Oldenburg:

A wurde als Zeichner und als Freund gefragt, als Zeichner, der ein Freund ist. Aber das ist ja schon eine Frage weiter. Davor stand die Entscheidung, dass du dich überhaupt begleiten lassen wolltest, dass du diese Reise durchs Oldenburger Land auf keinen Fall allein machen wolltest. Warum war das so?

Ich glaube, es gab dafür zwei Gründe. Der eine Grund ist das zentrale Thema des Alleineseins, wenn man schreibt. Also wenn man schreibt … das ist eine Arbeit, bei der man sich von niemandem zuschauen lassen kann und möchte. Es ist ein Tag, der zu einem großen Teil allein am Schreibtisch verbracht wird. Und wenn man mit einem Buch auf eine Lesereise geht oder überhaupt auf eine Reise geht, ist das oftmals auch etwas, das man alleine macht. Ich lebe mit dem Schreiben seit 30 Jahren und wenn ich mir diese 30 Jahre angucke, dann stelle ich mit einem gewissen Erschrecken fest, wieviel Zeit von diesen 30 Jahren ich alleine war beziehungsweise noch bin, de facto wirklich für mich bin. Und das ist eigentlich schön, und ich will das auch gar nicht anders haben, und ich kann das auch sehr gut, und ich bin darauf angewiesen und so weiter und so weiter, aber ich werde jetzt ein bisschen älter und dann plötzlich kriegt das doch auch etwas … na, ein bisschen was Fragwürdiges und vielleicht, möglicherweise Defizitäres.
Also, es gab sehr deutlich den Gedanken: Ich möchte diese Reise nicht alleine machen, ich möchte diese Reise zu zweit machen. Also habe ich nach einer Begleitung gesucht. Aber eine Begleitung mitzunehmen, die einfach nur eine Begleitung ist, hieße, sich für jemanden verantwortlich zu fühlen. Deshalb hieß es, jemanden zu suchen, der dieselbe Aufgabe gestellt bekommt wie ich: Einen Blick auf das Oldenburger Land zu werfen. Und es war natürlich nicht möglich, das mit einem Schriftsteller zu machen. Warum eigentlich nicht? Aber es ist nicht möglich, das muss man eben allein machen. Dann dachte ich, es wäre schön – weil es ja wirklich um den Blick auf etwas geht, also um die Darstellung von etwas – das mit jemanden zu machen, der zeichnet, der auch eine künstlerische, eine darstellerische Sicht auf die Dinge hat. Und dann habe ich an Andreas gedacht, der ähnlich wie ich vielleicht, nicht gebürtig ist, aber Wangerländer ist, würde ich sagen. Wir hatten zusammen gearbeitet in den letzten zehn, fünfzehn Jahren … Wir hatten genügend Gespräche über Texte, über Bilder, über die Umsetzung von Text, von Wirklichkeit in Text und so weiter und so weiter gehabt, sodass ich wusste, dass wir eine bestimmte Ebene miteinander teilen, auf der wir kommunizieren können. Dann habe ich ihn, habe ich dich, Andreas, wie beschrieben gefragt. Du hast zugesagt. Und ich glaube, mir ist erst im Laufe der Arbeit klar geworden, dass es noch einen zweiten Grund für diese Idee gab.
Und der zweite Grund ist ein bisschen diffiziler. Ich dachte, in den vier Jahren, die dieses Stipendium an Marion Poschmann, Mirko Bonné, Politycki und so weiter vergeben worden ist, die ganzen Jahre über: Warum kriege ich dieses Stipendium nicht? Ich meine … Also wer, wenn nicht ich, sollte das machen? Und dann bekam ich es und … es ist eine Krux mit der Wunscherfüllung. Ich habe dann plötzlich gemerkt, dass es ein Problem gibt: Also das, was ich dachte, was mich auszeichnen würde dieses Stipendium zu bekommen, nämlich meine Nähe zu dem Oldenburger Land, stellte sich natürlich als Problem heraus. Ich war viel zu nah dran und es hat mich alles irgendwie beunruhigt und durcheinandergebracht. Und plötzlich war ich in der Bedrängnis herauszufinden: Was will ich eigentlich erzählen? Will ich was von meiner Familie erzählen? Aber ich soll ja nicht über mich sprechen, sondern über meinen Blick auf das Oldenburger Land. Also es war plötzlich eine Gratwanderung zwischen den privaten und den Gedanken über die Verwurzelung und die Herkunft und die Reisen, die man macht und die auch innerhalb meiner Familie gemacht wurden und so, und auf der anderen Seite eben dem Blick auf die Dinge. Und ich glaube, ich hatte vielleicht unbewusst die Idee eines entlastenden zweiten Blickes, also eines Korrektivs, jemanden, neben dem ich hergehe und mit dem ich zusammen auf die Dinge gucke und der mir dann aber etwas abnimmt oder mich auch immer wieder zu einer bestimmten Ordnung ruft, ja, zu einer Disziplin und zu einem, ja, Nicht so-abschweifen-und-sich-in-diesem-inneren-Monologisieren-verlieren, sondern: hingucken und gucken, was macht eigentlich der andere.


Aber zu der Ordnung hast du dich schon selbst gerufen, denn ihr habt euch unterwegs bewusst noch nichts gezeigt. Ihr habt euch noch nicht Einblick gewährt: Du nicht in deine Notizen und Andreas hat nicht gezeigt, was er zeichnet. Also insofern war das Korrektiv für dich keines im Sinne von „Was schreibst du denn da, komm jetzt werde mal konkret!“, sondern es war deine Vermutung, dass er denken könnte, wenn er wüsste, was du jetzt notierst, du schweiftest ab … 

Es ist eine Vermutung gewesen, na klar, genau. Aber ich habe hingeguckt, wohin Andreas geguckt hat, wenn er sein Zeichenbuch aufgeschlagen hat. Dadurch ist natürlich eine bestimmte doppelte Dynamik entstanden … es hatte vielleicht ein bisschen was Hokuspokusartiges, wie Gedanken lesen. Ich habe versucht zu sehen, was er sieht, ich habe versucht, seine Gedanken zu lesen. Wir sind einander eben in so einem, ja, Ohne-Netz-und-doppelten-Boden-wortlosen-Takt gefolgt und haben gedacht: Mal gucken, was dabei herauskommt. Und am Ende, als wir also drei Monate später dann Zeichnung und Text zueinander gelegt haben, war es tatsächlich sehr beglückend zu sehen, dass es aufgegangen ist. Also dass es etwas sehr Leichtes und Gelungenes hatte und tatsächlich so war wie eine Blaupause, als lägen die Zeichnungen auf dem Text oder der Text auf den Zeichnungen. Es gab eine deutliche Kommunikation. Ich musste nicht für meinen Text nach Zeichnungen suchen, die man daneben hätte stellen können und umgekehrt, sondern das war eine Art Kreis. Und ich glaube, dass das gut gegangen ist, weil wir nicht darüber gesprochen haben, weil wir nicht gesagt haben: Das versuchen wir, lass uns versuchen, ich schreibe was, du illustrierst das, oder du zeichnest etwas und ich beschreibe deine Zeichnung. Das haben wir nicht gesagt und dann haben wir uns ein bisschen drauf verlassen, haben uns auf den anderen auch vielleicht verlassen, und dann ist es, wie ich finde, am Ende gut gegangen.
Es ist nicht wiederholbar, nehme ich an. Das kann man eben nur einmal machen. Und wenn man danach nochmal so eine Reise machen sollte, wäre das eine beschlossene Sache und dann geht es eben vermutlich nicht oder dann kommt was ganz, ganz anderes dabei heraus. Aber so finde ich gut, dass die Zeichnungen und der Text keine … also sie stehen irgendwie auf einer Ebene, es ist nicht so, dass das eine etwas für das andere tun soll oder so, sondern die stehen für sich und sind aber trotzdem zusammen. Und dieses Zusammengehörige ist dann das ganze Projekt.


Es heißt, bei den Freunden im Garten, die Erzählerin hofft, nach den Tagen im Oldenburger Land gefragt zu werden. „Man muss mich fragen“, heißt es da, „sonst kann ich nichts erzählen.“ Gilt das auch für dein literarisches Schreiben? Steht am Anfang jedes Romans, jeder Erzählung, auch eine Frage?

Also ich bin wirklich jemand, dem man eine Frage stellen muss, sonst werde ich auch irgendwie trotzig oder so. Ich finde, dass das Kommunikation bedingt, dass man sich fragt. Und für das eigene Schreiben … Ja, gibt es am Anfang nicht unbedingt eine Frage, sondern eher einen Satz. Also es gibt immer einen Satz, der der Anfang eines Textes ist, und der Satz beschreibt etwas, der äußert sich zu etwas, ist also eigentlich eine Feststellung; ist manchmal ein Satz, den jemand zu jemandem sagt, und ich höre diesen Satz; oder ein Satz, den jemand zu mir sagt, oder so … Und ich stolpere über diesen Satz, bleibe da hängen und merke mir den und stecke den in die Tasche. Und dann wird aus diesem Satz eine Frage, oder ich fange an den Satz zu hinterfragen und denke, dass das ein komischer Satz ist, dass der etwas sagt, aber eigentlich noch was ganz anderes sagt und darunter noch was Drittes. Und dann setzt so ein Doppelbödigkeitsfetisch ein, dem ich ein bisschen verfallen bin. Und ich fange an, den Satz in eine mögliche Geschichte einzukapseln. Oder ich fange an, eine Person zu suchen, die ihn sagen könnte, und eine Person, der er gelten könnte, und so weiter und so weiter. Also der Anfang eines Textes an sich beginnt mit Feststellungen, die ich dann befrage, ja, vielleicht so.


Dass die geteilte oder die doppelte oder die gemeinsame Wahrnehmung, das gemeinsame Gucken, ein großes Thema ist, hast du schon einleitend gesagt und in dem Zusammenhang auch erzählt, dass ihr euch wirklich fast einen ganzen Tag in Cloppenburg in einem Schlachthof aufgehalten habt, damit man die eine Szene versteht, die sich in Oldenburg im Garten ereignet: Ein Kind zieht einen Wäscheständer vor die Tür und A erinnert das an den Schlachthof. Es heißt dann im Text: „Er führt die Bilder zusammen, vergleicht die Formen und legt sie wie Schablonen aufeinander.“ „Ein visuelles Netz“, nennst du das. Das ist in der Tat eine sehr bildliche Beschreibung, aber gibt es dieses Verfahren als Umgang mit Sprache nicht auch in literarischen Texten? Also wenn zum Beispiel ein Text Motivketten entwirft. Oder in der Szene erstaunt es die Erzählerin, wie genau die Kinder die Pflanzen benennen können. Das ist für mich so eine Schablone, weil mich das daran erinnert hat, dass wir in der Wesermarsch darüber sprachen, wie wichtig ist dir da im Text ist, die Pflanzen und die Tiere, die Vögel – vor allem die, die typisch für diese Region sind, die durch Wasser geprägt ist –, die eben nicht nur ganz genau zu beschreiben, sondern die auch benennen zu können. Also dieses Benennen. Oder auch das Motiv des Schatzes… ist das nicht eigentlich sprachlich ein ganz ähnliches Verfahren wie das mit den Schablonen in Bildern?

Ja, das stimmt, das ist ein ähnliches Verfahren, aber eines, dass man – das ist aber sicherlich beim Zeichnen dann auch wiederum genauso – nicht bewusst einsetzt. Also ich mache mir keine kleine Liste, bevor ich anfange, auf der ich notiere, dass ich über Pflanzen oder das Benennen von Dingen oder das Schweigen schreiben möchte, sondern diese Dinge kommen von alleine in den Text. Und dann ist es allerdings tatsächlich so, dass sich plötzlich am Ende – manchmal braucht man auch sehr viel räumlichen, zeitlichen Abstand – zeigt, dass es Themen gegeben hat, die mir beim Schreiben gar nicht bewusst gewesen sind, die sich aber wie Variationen durch alle Tage dieser Reise ziehen. Und dazu gehört tatsächlich eine bestimmte Art der Naturbeschreibung und diese Parallele ist da. Also die, wie die Kinder die Pflanzen benennen. Und wie ich auf den Wegen durch die Wesermarsch diese Pflanzen der Wesermarsch für mich benenne. Das Schweigen. In dem Strackeljahn Handbuch, da gibt es eine Szene, die im Text über Westerstede erwähnt wird von zwei Schatzgräbern, die einen Schatz heben und die dürfen, während sie den Schatz heben, nicht miteinander sprechen – wenn sie miteinander sprechen würden, würde der Schatz sich in Luft auflösen und das ist eigentlich ein ganz schönes metaphorisches Bild für genau das, was wir gemacht haben. Wir haben eben nicht gesprochen, hätten wir gesprochen, wäre uns das wahrscheinlich irgendwie zerbrochen. 
Also diese Motivik, das ist etwas, das sehe ich erst hinterher. Und eigentlich ist das aber auch genau das, worum es geht, also beim Schreiben eine bestimmte Intuition zu halten und sich darauf zu verlassen, dass diese Intuition am Ende auch wirklich wie ein Rückgrat des Textes sichtbar werden wird. Aber was für mich in dem Moment, in dem Andreas sagte, dass er an die Schweine gedacht hätte, so verblüffend war, war, dass es ja de facto  gar nicht der Arbeitsprozess gewesen ist, sondern der Alltagsblick, der ganz alltägliche Blick. Also ich habe einfach gefragt, was hast du denn gedacht, als du das gesehen hast. Und dann kam diese Antwort, und diese Antwort hat mir gezeigt, dass es einen bestimmten, alltäglichen Blick auf Dinge gibt. So wie ich diese, sicherlich, Macke habe, die Dinge ständig psychologisieren zu wollen – also, dass ich dieses Kind sehe und nicht umhin kann zu denken: Warum sollen wir nicht mehr ins Haus? Diese Überinterpretation von Wirklichkeit, die ich betreibe. Und das ist eben die Art, mit der ich durch die Tage gehe, und das kann ich nicht abschalten. Ich kann mich dann manchmal zur Mäßigung rufen, aber eigentlich ist es irgendwie immer da. Und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass das auch für Andreas gilt oder für Menschen, die die Wirklichkeit umsetzen in Zeichnungen oder in Text oder in Musik oder wie auch immer. Dass es eben eine zweite Wahrnehmungsebene gibt, die immer mit Abgleichen beschäftigt ist. Mit Umsetzen, Kategorisieren, Festhalten, miteinander Dinge in Verbindung setzen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Also der Wäscheständer hatte nichts zu tun mit den Gittern des Schlachthofs. So wie meine Interpretation möglicherweise nichts mit dem Kind zu tun hatte, sondern was mit mir. Und ja, das fand ich irgendwie gut, also das hatte etwas Tröstliches, weil es zeigte, dass ich nicht alleine mit, ja, dieser gewissen Anstrengung bin.


Ich habe sonst zum Ende der Veranstaltung immer noch mal gefragt, ob sich dein Blick aufs Oldenburger Land durch das Darüberschreiben verändert hat. Vielleicht jetzt sogar mehr noch dadurch, dass du bei dieser Lesereise die Orte ein zweites Mal mit einer gewissen Distanz, nach einem Jahr nämlich, besuchen konntest. 

Also es ist tatsächlich eine sehr starke und wie so eine Verdoppelung oder so eine große Erweiterung, sprichwörtliche Erweiterung des Horizontes dabei herausgekommen. 
Genau, wie gesagt, ich kannte Jever und Wilhelmshaven und alle anderen Orte kannte ich nicht und ich bin an der nördlichen Ecke des Jadebusens zu Hause und jetzt habe ich ihn also einmal umrundet und ich weiß, was ich sehe, wenn ich von Horumersiel aus bei gutem Wetter auf die andere Seite rüber sehen kann. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich mich dieser Ecke der Welt, in der ich eben leben möchte, genähert habe. Und es gibt bestimmte Orte, vor allem tatsächlich die Wesermarsch, die ich ausgesprochen schön fand und die ich auf jeden Fall auch ohne ein Landgang Stipendium wieder besuchen möchte, wo ich wieder hinfahren will. Provinz, dieses Wort kam in einem der Titel der vorherigen Stipendiaten – Matthias Politycki – vor. Ist das hier eigentlich Provinz? Also da im Wangerland, wo ich bin, ist das Provinz? Könnte man denken, ja. Und dann neigt man manchmal zu: Provinz, dass das sowas Flaches ist, also etwas Eindimensionales oder Einfaches. Aber das ist es natürlich überhaupt nicht und gerade diese Lesereise hat dann auch noch mal, auch gestern in Westerstede oder auch in der Wesermarsch, dann doch Begegnungen mit Menschen und kleine Gespräche mit Menschen mit sich gebracht, die alles andere als provinziell waren. Also ich fühle mich bei aller Anstrengung, die es mich dann doch gekostet hat, am Ende sehr beschenkt, diese Reise gemacht zu haben. 

Zuletzt geändert am 5. September 2023