2022/23 – David Wagner

„Ich geh’ so gern durch Stadt und Land. Oldenburger Fahrtenbuch“

David Wagner war achter Stipendiat

2022 erhielt David Wagner auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium: ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land, das einen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont. Es wird seit 2015 jährlich an eine renommierte deutschsprachige Schriftstellerin oder einen renommierten deutschsprachigen Schriftsteller vergeben und führt die Stipendiatinnen und Stipendiaten in Landkreise und kreisfreie Städte des ehemaligen Landes Oldenburg.

David Wagner, 1971 geboren, wuchs im Rheinland auf und studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Berlin. Er hielt sich längere Zeit in Rom, Barcelona und Mexiko-Stadt auf und lebt derzeit als freier Schriftsteller in Berlin. Im Jahr 2000 debütierte er mit dem Roman Meine nachtblaue Hose. Es folgten Erzählungsbände, Prosabücher, Essaysammlungen und Romane. 2013 wurde ihm für sein Buch Leben der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Es folgten weitere Auszeichnungen. Zuletzt erschien 2021 das Buch Verlaufen in Berlin

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der achten Durchführung waren das Schlossmuseum Jever, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch in Kooperation mit dem Kulturzentrum Seefelder Mühle, die Städtische Galerie Delmenhorst, der Bahnhofsverein Westerstede, die Landesbühne Nord Wilhelmshaven und das Museumsdorf Cloppenburg.

Erkundungstour und Oldenburger Fahrtenbuch

Vom 4. bis zum 14. Juli 2022 unternahm David Wagner als Stipendiat des Literaturhauses eine Erkundungsreise durch das Oldenburger Land. Inspiriert durch die Reise, die ihn von Oldenburg nach Cloppenburg, Delmenhorst, Seefeld, Wilhelmshaven, Jever und Westerstede führte, entstand sein Text Ich geh’ so gern durch Stadt und Land. Oldenburger Fahrtenbuch, dessen Grundgerüst Kategorien wie gesehen, gegangen, gesprochen, gedacht sind. 

Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg

Am 7. Mai 2023 trat er die Reise als Lesereise der Kulturstiftung Öffentliche Oldenburg ein weiteres Mal an. Die Reise begann im Museumsdorf Cloppenburg und endete am 14. Mai im Oldenburger Musik- und Literaturhaus Wilhelm13. Monika Eden, die Leiterin des Oldenburger Literaturhauses, begleitete den Schriftsteller als Projektleiterin und Moderatorin. Bei der ersten Rundtour stellte die besuchte Region gleichsam David Wagners Forschungsfeld dar. Bei der zweiten Reise bekamen die Besucherinnen und Besucher seiner Lesungen nicht nur zeitgenössische Literatur vermittelt: Die Literarisierung der Reiseeindrücke ermöglichte Ortskundigen zudem einen neuen Blick auf vermeintlich Vertrautes. In Lesung und Gespräch wurde den Besucherinnen und Besuchern der Text Ich geh’ so gern durch Stadt und Land. Oldenburger Fahrtenbuch nahegebracht, ferner konnten sie Fotos sehen, die David Wagner während seiner Reise gemacht hatte. 

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und David Wagner bei der Lesung in Oldenburg:

Jetzt sind wir in der Lesung schon bis Delmenhorst gekommen und haben noch überhaupt nicht gesagt, welchen Titel dein Landgang-Text hat. Er heißt „Ich geh’ so gern durch Stadt und Land. Oldenburger Fahrtenbuch“. Zu dem Begriff des Fahrtenbuchs sind mir sofort Berufsfahrten eingefallen; die Logistikbranche. Ein Fahrtenbuch dokumentiert, welche Strecke mit einem Fahrzeug zurückgelegt wurde, es dokumentiert den Grund der Fahrt, es ist eine Art Protokoll. Und du warst ja, wie wir gerade gehört haben, auch mit einem Auto im Oldenburger Land unterwegs. Hast du, als du den Titel gewählt hast, an diese Definition des Fahrtenbuches gedacht?

Vielleicht auch, ja. Aber natürlich habe ich das nicht so technisch verstanden …

Das wäre sonst ein langweiliger Text geworden.

Ja, oder ich habe den Titel allein nicht so verstanden. Ich glaube, ich denke dabei immer auch an die große Fahrt oder die Fahrten, die man unternehmen kann. In meiner Jugend hatte ich einen Freund, der führte ein Fahrtenbuch, in dem er alle seine Wandervogelwanderungen eingetragen hat.

Ein Fahrtenbuch, obwohl man zu Fuß unterwegs ist – das wusste ich nicht, dass der Begriff in dem Bereich verwendet wird. 

Ich glaube, das ist so ein Begriff, den die verwenden. Und ich war dann ja doch sehr viel mit dem Auto unterwegs, also das Fahren spielte eigentlich eine gewisse Rolle und das hat natürlich meine Wahrnehmung verändert, weil sich so ein, ja, so ein Kinogefühl eingestellt hat: Die Windschutzscheibe, die wurde eigentlich zur einer Art Leinwand, wie ein großer Monitor. Das war für mich anders, weil ich mich sonst fast nur zu Fuß durch die Städte bewege. Das ist eigentlich eine interessante Erfahrung, dass ich festgestellt habe, auf dem Land, oder sagen wir mal zwischen den Städten, ist es eben oft gar nicht so leicht, viel zu Fuß zu gehen. Leider fehlen da auf vielen, vielen Land- oder Kreisstraßen oder Bundesstraßen Radwege und auch Fußgängerwege. Das ist nicht vorgesehen. Das habe ich auch in der Wesermarsch gespürt, als ich versucht habe, zu Fuß zu gehen …  Also das habe ich schon oft bemerkt, dass man kurioserweise auf dem Land…  man kann irgendwo hinfahren, da muss man das Auto abstellen, wie eben beschrieben, und dann muss ich wieder zum Auto zurück. Also deshalb: Mein ursprünglicher Plan war ja eigentlich, alles zu Fuß zu gehen, von Stadt zu Stadt, wie so ein Wandergeselle … 


In der Logistikbranche, in der ich das Fahrtenbuch in Gedanken verordnet hatte, hat Fiktion schon aus juristischen Gründen keinen Platz. Von Literatur ist ein Fahrtenbuch eines Berufsfahrers auf jeden Fall meilenweit entfernt. Wie literarisiert, wie fiktionalisiert ist eigentlich dein Reisetext? Ich habe gestern gemerkt, dass ich die ganze Zeit immer gesagt habe, „Dann warst du ….“. Ich bin Germanistin, ich hätte natürlich sagen müssen, „Der Erzähler bewegt sich von Ort zu Ort und jetzt ist der Erzähler in Wilhelmshaven angekommen“. Das ist natürlich im Text dann nicht mehr David Wagner, das ist wieder ein Stück von dir abgerückt, oder?

Ja, also ganz grundsätzlich ist es eigentlich so, dass wann immer ein Autor, eine Autorin etwas aufschreibt, fiktionalisiert er oder sie auf eine gewisse Art und Weise. Denn es ist dann immer eine subjektive Darstellung, man lässt ganz viel weg, man kann es ja nicht genau aufschreiben, wie es gewesen ist. Es ist immer ein Bild. Wenn ein Maler ein Gemälde malt und da sieht man noch die Pinselstriche, kommt ja auch keiner auf die Idee, das sei dann genau die Wirklichkeit. Also jeder Text erzeugt eigentlich ein Bild, eine Fiktion der Wirklichkeit. Der Autor kann natürlich behaupten: Ja, alles war genauso. Aber die meisten Texte lügen da eigentlich schon ein bisschen, wenn sie das behaupten. 

Je autofiktionaler sie sind, umso mehr sollte man eigentlich skeptisch sein – weil nie so viel erfunden wird, wie wenn die eigene Lebensgeschichte erzählt wird.

Genau. Also natürlich, es stimmt, ich war in Wilhelmshaven und ich war in Cloppenburg. Ob das Ich des Textes, was da herumspaziert, jetzt genau diese Sachen gesehen hat oder all das schon wusste, oder ob das nicht vielleicht nachher oder angelesen oder aus einer anderen Stelle stammt, das sind natürlich Sachen ... also das ist die eigentliche Arbeit des Schriftstellers, eben so ein Bild zu erzeugen und zu malen und ja. Also meine Aufgabe sehe ich eigentlich darin, mich der Gegenwart auszusetzen und sie zu beschreiben und durch die Beschreibung eben auch zu deuten oder auf jeden Fall zu befragen, danach, in was für einer Welt wir eigentlich leben und wie die aussieht und was das auch mit uns macht; die Städte, die Fassaden, die Häuser, die Landschaft, die wir jetzt schon so lange misshandeln. Und deshalb bin ich für diese Gelegenheit sehr dankbar, weil ich das in so einer Intensität jetzt auch lange nicht wahrnehmen konnte, also den Wahrnehmungsapparat voll anstellen konnte. Das war so lustig! Ich meine, ich bin ja auch sonst oft in Westdeutschland auf Lesereisen unterwegs. Aber jetzt auf der Erkundungsreise war es dann eben so … ach, hier fühle mich wie auf Lesereise, aber ich muss abends gar nicht lesen; das ist gut, ich kann alles aufschreiben, was ich gesehen habe. Denn solche Fotos wie die, die hier entstanden sind, die mach ich auch sonst, wenn ich in Dortmund oder Neustadt an der Weinstraße oder Lengerich, oder keine Ahnung, wie die Städte alle heißen, bin. Das interessiert mich eigentlich, wie diese Stadt- oder urbanen Landschaften aussehen. Und ich bin auch ein bisschen auf der Suche danach, was dieses Land eigentlich ausmacht, und das ist natürlich auch wieder eine Kindheitsreise, denn ich bin ja selbst in einer westdeutschen Landschaft am Rhein und um Bonn herum aufgewachsen. Also die Häuser, die da schauen, diese Fassadengesichter, die habe ich in meiner Kindheit gesehen. 


Unter dem Titel „Ich geh so gern durch diese Stadt“ ist ganz aktuell im März ein Buch mit deinen gesamten Berlin-Spaziergängen erschienen. Du hast in den letzten 25 Jahren drei Bücher zu Spaziergängen in deiner Wahlheimat Berlin veröffentlicht und die sind jetzt in einem Band gemeinsam erschienen. Der Titel des Oldenburger Textes lehnt sich sehr an den Titel dieser Veröffentlichung an, es kommt zur Stadt bei uns noch das Land dazu, also das heißt, deine Grundhaltung beim Landgang-Projekt war so wie bei deinen Berliner Spaziergängen?

Ja, eigentlich war ich ein bisschen auf der Suche nach dem Land, eben auch hier im Großherzogtum. Tatsächlich war es dann so, dass ich eigentlich nur in Städten war; also die Sache ist so organisiert, dass man in jeder Stadt einmal übernachtet, also jeden Tag fällt dann auch eine Reise zwischen die Städte und theoretisch, ja, zwischen Land. Aber so ganz richtig habe ich das dann doch nicht gefunden, denn man ist dann doch immer im urbanen Raum. Ich mag den Titel Landgang eigentlich sehr gerne, das finde ich an sich schon poetisch, aber Sie haben gehört, ich habe versucht, einmal durch den Wald zu gehen, aber so richtig Land war das natürlich auch nicht und ich habe den Verdacht, dass es das Land so gesehen eigentlich gar nicht mehr gibt. 


Judith Schalansky, die Schriftstellerin, die auch Herausgeberin der Naturkundereihe bei Matthes & Seitz ist, bezeichnet deine Berlin-Texte als Heimatkunde fern jeglicher Gemütlichkeit und des Heimeligen. Ist das eine Art Heimatkunde, die du in Berlin betreibst, aber auch beim Landgang Projekt, wenn du in anderen Städten unterwegs bist?

Also ich möchte Judith Schalansky nicht widersprechen. Heimatkunde, warum nicht, also das Wort Heimat ist ja ein wunderschönes Wort, also ein Wort, um das uns andere Sprachen beneiden. Warum das nicht benutzen und verwenden. So sieht unsere Heimat eben auch aus. Sie ist eben nicht überall konventionell schön und das sehe ich als meine Aufgabe, wie schon gesagt, mich dieser Heimat oder dieser Gegenwart oder wie dieses Land heute aussieht, auszusetzen und versuchen zu verstehen. Und das heißt immer zu verstehen, was da vorher passiert ist und vorher vorgegangen ist. 

Zuletzt geändert am 5. September 2023