Das geheimnisvolle Manuskript
von Luna und Tobias
„Bereit, Einsneunzig?“
Stella Maraun war nicht bewusst, wie bereit Adrian war. Sie hätte ihn fragen können, ob er mit ihr den Mount Everest besteigen oder an dem nächsten Marathon teilnehmen würde. Adrian war bereit. Jetzt, war er bereit. Als sie zum erstmal von Mrs. Elderly von dem geheimnisvollen Dreitotenhaus erfahren hatten, mit seiner hohen, grauen Fassade und den tiefliegenden Fenstern, war für Stella klar gewesen, dass sie dieses schrecklich gruselige Gebäude erkunden mussten. Auch damals, als sie zum ersten Mal vor dem kaputten, stacheligen Drahtzaun standen, hatte sie ihn gefragt.
„Bist du bereit, Einsneunzig?“
Er hatte sie enttäuscht. Er hatte Stella enttäuscht. Die Stella, die er, seit sie nebenan eingezogen war, bewunderte. Für ihren Mut, ihre Unerschrockenheit und vielleicht, vielleicht nur ein kleines bisschen für die Art und Weise, wie sie ihn mit ihren meerblauen Augen anlachte. Er hatte sich nicht getraut. Doch dieses Mal sollte alles anders werden. Er würde sich trauen, das hatte er sich noch am selben trüben Oktoberabend geschworen, nicht für sich, sondern für Stella.
„Bist du endlich bereit, Einsneunzig?“
Wie ertappt zuckte er zusammen. Trotzdem antwortete er mit entschlossenen Worten.
„Ich bin nie bereiter gewesen.“
Das Gebäude ragte imposant in den Himmel hinauf, es schien sie förmlich aufzufordern wegzurennen.
Trotzdem folgte Adrian Stella mit schnellen Schritten. Gemeinsam öffneten sie die knarrende alte Holztür.
Dahinter erwartete sie eine großzügig ausgelegte Eingangshalle, in deren Mitte sich eine Treppe ihren Weg zum ersten Stock wandte. Das Haus schien aus einem von Mrs. Elderly geschriebenen Thrillerromanen zu stammen, die sie Stella und ihm heimlich vorgelesen hatte.
Während sie die steilen Stufen hochschlichen, stieg ihnen ein modriger Geruch in die Nase.
„Riechst du das?“
„Hast du etwa Angst, Einsneunzig?“ Ein Grinsen umspielte Stellas Mundwinkel.
Im ersten Stock erstreckte sich vor ihnen ein spärlicher und nur vom Mondschein beleuchteter Flur. Schemenhaft war eine Tür zu erkennen, die einen Spalt breit offenstand.
„Bereit, Einsneunzig?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand Stella dahinter. Tiefdurchatmend folgte Adrian ihr. Jetzt war kein Moment, um zu kneifen.
Kaum hatte er den Raum betreten, fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
„Stella?“
Doch dort, wo Stella eigentlich hätte stehen sollen, blickte ihm nur Dunkelheit entgegen. Keine Antwort. Kein Lachen. Kein Schritt. Kein Atemzug. Nur das Pochen seines Herzens.
„Stella!“
Seine Stimme zitterte, Panik kroch in ihm hoch. Verzweifelt rüttelte er an der rostigen Klinke, doch die Tür blieb verschlossen. Er wollte rennen, wollte schreien, wollte irgendwohin, nur weg von hier. Doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Wie festgefroren stand er da.
Zuletzt geändert am 2. Dezember 2025