Die große Welt
von Lennard
„Einsneunzig“ wird Adrian in der Schule genannt. Das geht schnell über die Lippen, und die Leute finden es witzig. Als Dreizehnjähriger so groß zu sein, bedeutet aufzufallen. Aufzufallen mit einer Hose, die Hochwasser hat, und einem T-Shirt, aus dem Adrian längst herausgewachsen ist. Auffällig, groß – nicht beeindruckend, sondern peinlich. Vielleicht mitleiderregend, vielleicht seltsam.
Mit großen Schritten läuft der Junge an den Häuserreihen entlang und er denkt nach. Magie gibt es für Adrian nicht. Aber ein Fluch auf dem Dreitotenhaus erscheint wie ein verlockender Gedanke. Ein Gedanke, der dem Schulweg einen Hauch von Abenteuer verleihen würde.
Die Tür des Hauses steht offen! Dabei ist die Familie doch abgefahren. „Ist da jemand?“, ruft Adrian unsicher ins Haus hinein. Keine Antwort – nur ein Klicken, das er nicht zuordnen kann. Adrian geht auf Zehenspitzen hinein. Vor ihm eine Holztreppe. Sollte er hinaufgehen? Es fehlt eine Stufe. Drei Treppenstufen, und er könnte über die Kante spähen. Okay – Schritt für Schritt. Es knarzt.
Verdammt!
Vor ihm steht ein riesiger Mann, dessen Schultern gegen die Zimmerdecke drücken; der Kopf ist abgeknickt, die Arme unheimlich lang. Einen Moment lang regt sich keiner der beiden. Der Riese betrachtet Adrian, als hätte er genau ihn hier erwartet. Dann stapft er schwerfällig die Treppe hinunter und zertritt eine weitere Stufe. „Komm mit!“, brummt er und quetscht sich durch die Tür ins Freie, wo er die Arme in den Himmel streckt. Man soll Fremden zwar nicht folgen, aber Adrian fühlt sich magisch verbunden mit dem Riesen. Ehe er weiter nachdenken kann, hebt der ihn auf die Schultern. Gemeinsam verlassen sie die kleine Gemeinde – mit großen Schritten, dem Horizont entgegen.
Wo sich die Landschaft wandelt, setzt der Riese den Jungen auf den Boden herab. Adrians Augen leuchten. Berge, deren Höhe die Vorstellungskraft durchbrechen, und Schneeflocken, so groß wie Fußbälle – da kommt sich Adrian zum ersten Mal im Leben klein vor und das fühlt sich gut an.
Zuletzt geändert am 2. Dezember 2025