Der Entstehungsprozess

Das große Ziel näherte sich Stich für Stich

Vor dem Aufbau der beiden textilen Gesamtkunstwerke liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren: Hinter den Kulissen standen die Häkel- und Stricknadeln nicht mehr still. Die Zeit drängte: Ende Juli 2020 sollten beide Tipis, die aus jeweils 1.200 gehäkelten oder gestrickten Wollquadraten bestehen, aufgebaut werden. Eines vor dem Stadtteiltreff Kreyenbrück auf dem sogenannten „Kleinen Klingenbergplatz“ am Alten Postweg 1, das zweite in der Innenstadt vor dem Kulturzentrum PFL in der Peterstraße 3.

Stadtteiltreff Kreyenbrück wurde zur Nähstube

Im Juli 2020 verwandelte sich der Stadtteiltreff Kreyenbrück mehr und mehr in eine Nähstube: Das gesamte Gewebe musste noch einmal überhäkelt werden, um stabil genug für das „Tipi“ zu sein. Die Aussage „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, die Karl Valentin zugeschrieben wird – hier bewahrheitete sie sich. Unermüdlich trafen täglich Frauen im Stadtteiltreff ein, um allein oder gemeinsam an großen Tischen Stich um Stich das Gewebe zu verbinden. Einmal mehr zeigte sich, dass das Projekt auf verschiedene Weise Brücken schlägt: zwischen Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Zwischen Kunst und Alltag. Zwischen kreativem Tun und meditativem Sein.

Das Gewebe nahm Formen an

Ende Juni 2020 reiste die Initiatorin Ute Lennartz-Lembeck ein zweites Mal aus Remscheid an, um gemeinsam mit Helferinnen vor Ort im Stadtteiltreff Kreyenbrück die Bahnen für die beiden Tipis zu heften. Fünf Frauen aus dem gesamten Stadtgebiet hatten sich bereit erklärt, uns bei dieser Arbeit zu helfen. Da auf dem Boden gearbeitet werden musste, kamen Kniebänkchen und Meditationskissen zum Einsatz. Gemeinsam mit Kolleginnen aus dem Stadtteiltreff und dem Kulturbüro herrschte nach einer kurzen Einführung durch die Künstlerin eine entspannte und betriebsame Atmosphäre. Die Wolle, die Farben, die Geschichten der Anwesenden verwoben sich zu einem bunten Teppich aus Eindrücken. Das gemeinsame Tun tat gut! Auch, wenn aufgrund der Abstandsregeln immer auch eine gewisse Anspannung mit im Raum war. Nach zwei Tagen war es geschafft: Aus den einzelnen Bahnen waren vier große Gewebe geworden. Jeweils zwei von ihnen bilden den Überwurf für ein „Tipi“.

Es blieb ein Gemeinschaftswerk

Nach dem Legen der Quadrate ging das Gemeinschaftswerk in die nächste Runde: Die Einzelteile mussten zu Bahnen vernäht werden. Auch hier wurden wieder kreative Lösungen gefunden, um diesen Arbeitsschritt trotz der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie unter möglichst großer Beteiligung der Mitwirkenden umzusetzen: Die Frauen nähten überwiegend zuhause und holten ihr Päckchen aus dem Kulturbüro und beim Stadtteiltreff ab oder bekamen sie nach Hause geschickt. „Wir sind beeindruckt von der Kontinuität, mit der sich die Menschen für ‚ihr‘ Tipi einsetzen“, so Jutta Hinrichsen vom Stadtteiltreff Kreyenbrück. 

Erster Besuch der Künstlerin

Am 19. Mai 2020 fand der erste Vor-Ort-Termin mit der Künstlerin Ute Lennartz-Lembeck im Stadtteiltreff Kreyenbrück statt. Sie sortierte die Quadrate in Form eines Regenbogens als Symbol für Hoffnung und Zuversicht und für Verbundenheit in Vielfalt. Anschließend setzten die Kolleginnen aus dem Stadtteiltreff Kreyenbrück und aus dem Kulturbüro farbliche Akzente und sorgten für den einen oder anderen Kontrast. „Da halte ich mich immer bewusst raus“, so die Künstlerin: „Je heterogener ein Tipi ist, umso interessanter ist es“. Normalerweise werden zu diesem Arbeitsschritt alle Mitwirkenden eingeladen. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie haben die städtischen Mitarbeiterinnen das in diesem Fall stellvertretend für die 150-200 Mitwirkenden getan.

Weitere Impressionen vom ersten Besuch der Künstlerin

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Aus eins mach zwei

Trotz unseres „Strick-Stopps“ vom 23. April 2020 erlebten wir im April und Mai 2020 im Kulturbüro und im Stadtteiltreff Kreyenbrück die wundersame Wollvermehrung: Aus den erforderlichen 1.200 Wollquadraten für ein Strick-Tipi waren über 2.400 geworden! Genug also für zwei „Tipis“. In Rücksprache mit der Planungsgruppe des Farbenfroh Festivals Kreyenbrück wurde beschlossen, statt einem Strick-Tipi zwei textile Gesamtkunstwerke in Oldenburg aufzustellen. In Windeseile stand die Finanzierung für ein weiteres „Tipi“: Dank einer großzügigen Spende der Interessengemeinschaft „Die Kreyenbrücker e.V.“ konnte der großen Resonanz der Menschen nun Rechnung getragen werden.

Strickfieber kennt kein Alter

Die jüngste uns bekannte Teilnehmerin ist sieben Jahre alt, die Älteste 90. Ihre Tochter schreibt: „Meine Mutter Josefine [...] hat diese Idee zunächst mit Verwunderung (’Wat schall dat denn weern?‘) und dann doch mit Freude aufgenommen. Stricken und Häkeln ist neben Fernsehen die einzige Freizeitaktivität, die sie noch gut machen kann. Und gerade in diesen Zeiten der eingeschränkten Kontakte ist sie dankbar für diese Aufgabe, insbesondere da sie selber entscheiden kann, ob sie häkeln oder stricken will und dass sie über Muster sowie Farben nachdenken kann.“ Eine Kollegin aus der Stadtverwaltung hat nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder gestrickt. Das Foto zeigt Elmar, den Elefanten aus dem Kinderbuch von David McKee. Angefertigt wurde er von einer Frau, die nach dem Strick-Stopp für das „Tipi“ unbedingt weiterstricken wollte. Elmar wird nun in die Kinderräume des Stadtteiltreffs Kreyenbrück einziehen.
 

Tausend(zweihundert) Dank!

Kein Corona, aber Strickfieber! Diesen Anschein erweckt die Welle an Wollquadraten, die über uns „hereinbrach“. Insofern mussten wir am 23. April 2020 schweren Herzens sagen: Basta! Wir haben die 1.200 Quadrate und damit die benötigte Anzahl an Einzelteilen zusammen. Tausend(zweihundert) Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz, Ihre Kreativität und Ihre Freude am Mittun!

Ein neues Bild vom Alter(n)?

Vergangene Woche fand eine ungewöhnliche Übergabe statt: Auf dem „Dorfplatz“ des Hermine-Kölschtzky-Hauses übergab mir eine Bewohnerin des Mehrgenerationenhauses in Oldenburg-Osternburg 59 Wollquadrate, natürlich mit gebührendem Abstand. Den zu wahren half der 87-Jährigen ein Zollstock, den sie immer in ihrem Rollator bei sich führte. Die Mitgründerin des Vereins Lebenskreise - Verein für Generationen verbindendes Wohnen e.V. ist auch als „Oma gegen Rechts“ aktiv. Sie hatte in ihrem Wohnprojekt mehrere Mitbewohnerinnen aktiviert, am „Tipi“-Projekt teilzunehmen. Auch aus dem HANSA Seniorenwohnstift Ofenerdiek erreichte uns ein großes Paket mit Wollquadraten. Eine Betreuerin schrieb dazu: „Da wir im Heim leider Ausgangssperren und Besuchsverbot haben, stricken die Damen auf Ihren Zimmern, um sich die Zeit zu vertreiben. Im nächsten Paket schicken wir ein paar Fotos von uns.“ Toll, wie das „Tipi“ hilft sichtbar zu machen, welchen Beitrag ältere Menschen und andere für unsere Gesellschaft leisten, die häufig übersehen werden.

Stricken während der Chemotherapie

Es gibt inzwischen so viele berührende, bewegende und erheiternde Geschichten rund um das „Tipi“-Projekt, das wir nur einem Bruchteil davon an die Öffentlichkeit verhelfen können. Hier eine berührende Zuschrift aus Bad Zwischenahn: „Hallo! Ich hoffe, ihr könnt diese Quadrate noch gebrauchen! Ich habe meiner Nachbarin die Idee angeschnackt, damit sie während ihrer Chemotherapie beschäftigt ist. [...] Es war auf jeden Fall eine tolle Idee von Euch und für diese Zeit genau das Richtige!“ Vielen Dank und alle guten Wünsche für die Spenderin.

„Täterprofile“: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

In Anlehnung an den Buchtitel von Richard David Precht stellte sich die spannende Frage: Was sind das eigentlich für Menschen, die am Strick-Tipi mitwirken? Namentlich waren uns fast ausschließlich Frauen bekannt. Mit zwei Ausnahmen: der neunjährige Neffe der Projektkoordinatorin im Kulturbüro und ein strickender Mann in Kreyenbrück. Unter den Mitwirkenden gibt es „Einzeltäterinnen und Einzeltäter“ und „Wiederholungstäterinnen und Wiederholungstäter“: Einige schickten nur ein Quadrat zu, andere strickten jeden Tag ein Quadrat oder ließen uns ganz viele auf einmal zukommen. Die verschiedenen Handschriften deuteten auf Verspielte, Resteverwerterinnen und -verwerter, Symbolträchtige, Individualistinnen und Individualisten und solche, die gern in Serie produzieren. Was sie alle einte: Sie lieben, was sie tun. Und sie fragen lieber vorher nach, bevor sie Gefahr laufen, ihren Beitrag „umsonst“ zu leisten.

Weitere Eindrücke vom Prozess während des Lockdowns

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Ein ganz besonderes Paket

Am 15. April 2020 erreichte uns ein ganz besonderes Paket: von Patientinnen und Patienten aus der Karl-Jaspers-Klinik, der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vor den Toren Oldenburgs. Auch dort galt seit Mitte März 2020 ein striktes Besuchsverbot – eine besondere Härte für die Menschen in psychischen Krisen, die dort stationär behandelt werden. Eine Pflegerin sah unseren Aufruf in der Zeitung, besorgte Materialien und lud zum gemeinsamen Häkeln ein. Das Projekt wurde „als willkommene Abwechslung in der Tagesgestaltung“ angenommen. Den 27 bunten Wollquadraten lag ein Gedicht einer Patientin bei. Hier ein Auszug: „Wir Patienten der KJK wollen ein Vibe verbreiten. Lernen vom Positiven, freun‘ uns auf Kleinigkeiten. Manchmal sind es Einfachheiten, die einen weitertreiben. Es hat uns viel Spaß gemacht, das beweisen meine Zeilen. Hoffen, ihr Projekt klappt, sehen es in der Zeitung. Erleben es in Echtzeit, erleben diesen Zeitpunkt. Machen sie weiter mit ihren Gemeinschaftsaktionen. Denn bleibt man dabei, dann wir die Zeit einen belohnen.“

Viel Post auch im Stadtteiltreff Kreyenbrück

Auch in der zweiten Sammelstelle im Stadtteiltreff Kreyenbrück gingen täglich Pakete mit Quadraten ein. Nach dem Osterwochenende zählten wir in den beiden Sammelstellen zusammen bereits 507 Quadrate, nach einem Monat Projektlaufzeit. Wir sind überwältigt! Auch dort begleiteten persönliche Zeilen und Grüße die textilen Kunstwerke. Eine Frau hat eine wunderschöne Patchwork-Decke gestrickt. Auch diese wird auf die eine oder andere Weise Einzug in das Projekt finden.

Ein Quadrat pro Tag

Eine Mitwirkende strickte seit dem 16. März 2020 – der großflächigen Lahmlegung des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie – jeden Tag ein Quadrat. Sie schickte diese wochenweise an das Kulturbüro und legt Briefe bei, in denen sie uns an ihren Gedanken zu ihrem Alltag in der Krise teilhaben ließ: „Gerade am Ostersonntag habe ich mich sehr gefreut, an der Tür des Kulturbüros eine Tasche zu entdecken, die ebenfalls mit Quadraten gefüllt war. Ich bin nicht allein am Stricken, war mein erster Gedanke. Obwohl mir dies natürlich klar war, habe ich es nun sehen können. Mein Corona Tipi Projekt gibt mir mittlerweile tatsächlich viel Halt in diesen ungewissen Zeiten und gleichzeitig freue ich mich auch, diesen Wollresten, die wirklich schon sehr lange in Bastelkisten schlummerten, einen kreativen und kulturellen Sinn zu geben.“

Von Wurstgarn und DDR-Wolle

Die Ladenschließungen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 führten zu Engpässen beim Material. Ursprünglich sollte ja aufgrund der besseren Witterungstauglichkeit nur Acryl-Wolle verwendet werden. Eine ältere Mitwirkende macht dabei eine erstaunliche Entdeckung: In einem Supermarkt findet sie Wurstgarn – zu 100 Prozent aus Acryl! Sie probiert sich damit aus und schickt uns einige Belegexemplare. Eine Teilnehmende aus Thüringen findet in ihren Restbeständen noch drei Rollen „Alwo Prylazell“ aus DDR-Zeiten, aus dem VEB („Volkseigener Betrieb“) Altenburger Wollspinnerei. Das Stück zu 2,50 Mark EVP, dem staatlich vorgeschriebene Festpreis. So fand auch ein Produkt aus einem politischen System, das es gar nicht mehr gibt, Eingang in das Oldenburger „Tipi“.

Wollspenden

Nicht nur Quadrate wurden uns zugeschickt, auch Wollspenden erreichten uns. Und wurden dorthin weitergegeben, wo sie gebraucht werden: zum Stadtteiltreff Kreyenbrück, wo es einige „strickwütige“ Frauen gibt, die auf Woll-Nachschub hofften. Vielen Dank der Spenderin, der sich noch weitere angeschlossen haben! Unter anderem von einer Ladenauflösung in Spanien, wo eine Mitwirkende zeitweise gelebt hat. Eine andere Mitwirkende erzählte begeistert, sie habe über ein digitales Nachbarschaftsportal zwei Tüten Wolle geschenkt bekommen. Und hat darüber inzwischen auch eine Quelle für Topinambur aufgetan, den sie so liebt...

Die ersten Quadrate

Am 19. März 2020 gingen im Kulturbüro die ersten beiden Quadrate ein. Überraschenderweise nicht aus Oldenburg, sondern aus der Barlachstadt Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern! Ein richtiges „Ost-Paket“, sozusagen. Hintergrund: Die Deutsche Presseagentur (dpa) hatte einen Auszug aus der städtischen Pressemitteilung zum Projekt „Ein Tipi für Oldenburg“ vom 10. März 2020 erstellt. Diese wurde nicht nur von Zeitungen im gesamten Norden aufgegriffen, sondern erschien sogar in der Süddeutschen Zeitung! Tage später erreichten uns Anrufe aus Herten, Kappeln und Großsolt – der Aufruf begann überregional Kreise zu ziehen.

Viele Wege führen nach Rom

Ab dem 16. März 2020 wurde das öffentliche Leben in Oldenburg wie überall im Land und in großen Teilen der Welt aufgrund der Pandemie durch das Virus Sars-CoV-2 stillgelegt: Schulen, Kitas, Läden, Museen , Kultur- und Sporteinrichtungen, Spielplätze und große Teile der Stadtverwaltung wurden für den Publikumsverkehr geschlossen. So schlossen sich auch die Türen der beiden Sammelstellen im Kulturbüro und im Stadtteiltreff Kreyenbrück für die Öffentlichkeit. Zum Glück funktionierte jedoch die Post noch und beide Einrichtungen verfügen über einen zugänglichen Briefschlitz in der Eingangstür. Die „Quadrat-Post“ begann.

Weitere O-Töne aus dem Entstehungsprozess

„... ein tolles Projekt, welches viele Menschen miteinander verbindet.“

„Das ist eine tolle Idee und willkommene Abwechslung in dieser schwierigen Zeit.“

„(...) Im Job habe ich noch nie so viel Zeit am Stück gehabt um Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das schafft Erfolgserlebnisse, ganz stressfrei. Toll! Aber es gibt auch diese Unruhe, dieses innere Flattern. Kommen wir davon? Bleiben wir verschont? Was bedeutet dieser Zusammenbruch für die Zukunft? Tja, wenn dieses Flattern mit dem Schauen der Tagesschau beginnt, sich zu melden, hole ich mein Strickzeug hervor: 1 Quadrat für das Tipi und weiterarbeiten an der Strickjacke für Enkel Nr. 2!“

„Sogar eine Freundin aus Freiburg hat mir zwei Quadrate geschickt.“

„Ein tolles Projekt! Es hat mir ganz viel Spaß gemacht, meinen Teil für das Tipi beizutragen. :-) Ich hoffe sehr, dass trotz Corona das Projekt verwirklicht werden kann!"

„Weiterhin viel Spaß wünscht euch allen zusammen – auch in dieser Zeit, wo Abstand halten sehr wichtig ist – die Mitstrickerin Elke“

„Ich drücke die Daumen, dass ein schönes, großes und farbenfrohes Oldenburg-Tipi entstehen wird – bestimmt wird es so sein. Ich freue mich auf die Einweihung.“

„Dieses Tipi wird für einige Menschen viel mehr sein als ‚nur‘ ein neuer mobiler Kulturort für Oldenburg, da bin ich mir sicher.“

Zuletzt geändert am 19. Juli 2023