Deniz Ohde: „Streulicht“

Gespräch

Zuschreibungen

Shortlist des Deutschen Buchpreises, Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung, aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt, einhellige Begeisterung der Kritik, mehrere Nachauflagen: Streulicht, der Roman der 1988 in Frankfurt geborenen, in Leipzig lebenden Deniz Ohde, war einer der erfolgreichsten des Jahres 2020. Nicht nur, aber auch weil Streulicht mit Herkunft/Klassismus/Identität einen derzeit vieldiskutierten Themenkomplex aufgreift:

Die Ich-Erzählerin kehrt anlässlich der Hochzeit ihrer besten Freunde nach Hause zurück, in eine Siedlung am Rand eines Industrie-„Parks“. Dort hat der Großvater gearbeitet, wie auch der Vater, die Mutter ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Als Arbeiterkind mit „Migrationshintergrund“ ist die Erzählerin doppelt von dem betroffen, was man „strukturelle Diskriminierung“ nennt. Dabei erzählt der Roman eigentlich eine Erfolgsgeschichte, denn nach einigen Umwegen macht die namenlose Erzählerin Abitur und studiert. Allerdings kann sie sich dieses Aufstiegs kaum erfreuen, der kein Ergebnis des sogenannten Bildungsversprechens dieses Landes war. Er verdankt sich der Unterstützung einiger weniger fördernder Menschen und einem gewissen stoischen Trotz, mit dem das schüchterne Mädchen sein Ziel verfolgt, aus dem Heimatort wegzukommen.
In Ohdes Roman geht es dabei weniger um eine Sozial- als eine Bildungs- und Familiengeschichte: die Prägung durch ein Milieu, das einen jungen Menschen bei der Entwicklung von Ich-Stärke nicht unbedingt fördert, und um eine Gesellschaft, die nicht offen ist, sondern stigmatisiert und ausgrenzt.

Am 7. März 2021 hätte Deniz Ohde ihren Roman Streulicht in unserem Programm vorstellen und mit dem Literaturwissenschaftler Thomas Schaefer sprechen sollen. Wegen der Corona-Krise musste die Lesung abgesagt werden. Sie führten ihren Austausch stattdessen schriftlich.
 

Interview: „Wenn ich jetzt sage, ich bin Schriftstellerin, dann habe ich wenigstens Beweise.“

Herkunft und Klasse

Liebe Deniz Ohde, Ihr Roman fügt sich in einen thematischen Rahmen, der spätestens seit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ immer wieder bedient wird, im vergangenen Jahr hierzulande zum Beispiel durch erfolgreiche Titel wie Bov Bjergs „Serpentinen“ oder Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass auf einmal alle wieder von „Herkunft“ und Klassengesellschaft reden?

Ich habe nicht wirklich eine Erklärung. Das Thema Herkunft ist für jeden Menschen relevant, jeder hat ja irgendeine Herkunft und jeder denkt in irgendeiner Form daran zurück. Vielleicht gibt es jetzt den Wunsch, sich mit Herkunft nicht als „Normalfall“ vs. „abweichend“ auseinanderzusetzen, sondern man ist tatsächlich an einer Vielstimmigkeit interessiert. Warum speziell das Thema Klasse in Deutschland jetzt so beliebt ist, darüber kann ich auch nur spekulieren, vielleicht, weil deutlicher wird, dass es durchaus Klassenunterschiede gibt, auch wenn man es gerne anders hätte und auch einige Zeit so hingestellt hat, als gäbe es das „nicht mehr“. Andererseits war es auch noch nie ein Geheimnis, dass zum Beispiel Hochschulabschlüsse und bürgerliches Elternhaus miteinander in Zusammenhang stehen, also eigentlich ist das nichts Neues.

Wie sehr hat der entsprechende „Diskurs“ Ihre Arbeit beeinflusst? Wie sehr haben Sie sich mit ihm auseinandergesetzt?

Ich kann mich erinnern, dass ich, kurz bevor ich Anfang 2017 die allerersten Abschnitte geschrieben habe, einen Artikel von Doris Akrap in der taz gelesen habe, in dem sie auf die Lektüre von Didier Eribon reagiert. Rückblickend hat dieser Artikel [mit dem Titel „Rückkehr nach Flörsheim“] » wohl etwas angestoßen, allein schon, weil ich mich jetzt noch dran erinnere, ihn gelesen zu haben, aber ich habe das erst mal nicht realisiert. Ich habe daraufhin nicht Eribon gelesen (habe ich bis heute nicht) oder mich sonst mit Theorie zur Sache beschäftigt, mit den ersten Entwürfen zu „Streulicht“ habe ich sogar erst mal eine Weile gebraucht, bis ich überhaupt gesehen habe, dass das eigentlich das Thema ist, das ich umkreisen will. Da habe ich dann aber vor allem aus eigenen Eindrücken geschöpft und nicht recherchiert, nur über die Ursachen und Wirkmechanismen der Messie-Krankheit habe ich mich etwas informiert.

Erst Anfang des Jahres habe ich auch „Der Platz“ von Annie Ernaux gelesen, mit der ich ja auch immer in Zusammenhang gesetzt werde, was ich jetzt endlich verstehen kann. Einige Ähnlichkeiten waren geradezu erschreckend.

„Streulicht“ ist eine unverhohlene Kritik an der Schule. Nur in der Abendschule erfährt die Erzählerin die nötige Aufmerksamkeit und Förderung. Dennoch ist ihr Weg ja eine Erfolgsgeschichte. Muss man den Institutionen, dem „System“, nicht doch ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren lassen?

Wem man Gerechtigkeit widerfahren lassen muss, sind eher die einzelnen Lehrkräfte, die versuchen, in diesem System eine gute Arbeit zu leisten. Die sind sowohl für die Erzählerin in meinem Roman, als auch in der Realität diejenigen, von denen alles abhängt. Im Austausch mit anderen begegnet mir auch immer wieder diese eine bestimmte Lehrperson, die sich über das Notwendige und teilweise über die Arbeitszeit hinaus für jemanden eingesetzt hat, was dann für den unwahrscheinlichen Erfolg die Grundlage bildete. Also ein Einsatz, der über das hinausgeht, was „das System“ eigentlich vorsieht. Insofern wäre ich eher dafür, diesem Einsatz auch systemisch Raum zu geben, damit es nicht davon abhängt, ob man das Glück hat, einer solchen Person zu begegnen.

Das Literarische vor dem Politischen

Sie haben oft betont, Ihnen sei es vor allem um eine Familiengeschichte gegangen. Der thematische Hintergrund deutet aber an, dass diese private durchaus eine politische Geschichte ist. Und so wird das Buch ja auch immer gelesen. Warum sträuben Sie sich gegen diese politische Ebene?

Es stimmt, dass es politische Themen sind, die ich im Text behandle. Ich habe mich allerdings bemüht, für diese Themen eine literarische Sprache zu finden, und das bedeutet für mich, genau hinzusehen, in konkrete Situationen zu gehen, in denen diese politischen Themen fassbar werden. Und auch die ambivalenten, diffusen Seiten sichtbar zu machen. Ich sträube mich nicht gegen die politische Ebene in meinen Texten, sondern gegen die Vorstellung, dass diese zuerst da gewesen sei. Das Literarische steht für mich an erster Stelle, ich muss von einer Emotion ausgehen, damit die politische Ebene überhaupt erst zustande kommt. Ich frage mich nicht zuerst, wie ich „der Gesellschaft den Spiegel vorhalte“ oder ähnliches, sondern „warum fühlt sich diese Figur traurig, wenn sie in diesem Türrahmen steht“ – es geht für mich immer mit einem Gefühl los und erst später wird mir die Thematik klar, wie ich oben schon angedeutet hatte. Und wenn ich mir über die Thematik bewusstwerde, dann frage ich weiter: was ist das für eine Erfahrung? Das ist etwas anderes, als einen Diskurs zu führen, der vielleicht darauf abzielt, ein politisches Problem zu lösen.

„Das Literarische“ existiert natürlich auch nicht nur an sich, das kann gar nicht unpolitisch sein, um jetzt nochmal kurz diese Grundsatzdiskussion anzureißen. Die Frage ist vielleicht eher, „wie“ ist es politisch, und für mich ist vielleicht das die Antwort: indem es konkret ist.

Machtinstrumente und -strukturen

Auffällig ist, dass jede Figur ziemlich auf sich allein gestellt ist. Auch diese Isolation findet sich in der gegenwärtigen Literatur häufig als Motiv. Kann man heutzutage in Deutschland nur allein nach oben kommen? Warum gibt es so viel Einsamkeit und Angst, warum so wenig Solidarität und so wenig Wut?

Es gibt viel Wut und viel Solidarität. Die Figur in meinem Text hat allerdings zu beidem keinen Zugang, weil sie einerseits in einem familiären Umfeld aufwächst, das über Generationen hinweg eine Mentalität des Aushaltens kultiviert hat (also das Gegenteil von Wut), andererseits, weil sie keine Entsprechung ihrer selbst in der Außenwelt findet. Das stille Ertragen ist auch für die anderen Figuren ein zentraler Faktor für ihre Vereinzelung. Ich wollte sichtbar machen, dass dieses Prinzip als propagierte Lebensform auch ein Mittel sein kann, um Menschen klein zu halten. Dass es ein Machtinstrument sein kann, indem es im einen Augenblick verlangt wird, und einem im nächsten zum Vorwurf gemacht wird.

Während manche Lehrerinnen und Lehrer oft wie Karikaturen wirken, sind die Eltern so differenziert gezeichnet, dass man meint, eigentlich ginge es im Roman vor allem um sie. Insbesondere um den Vater: Er trinkt, ist ein Messie und wird gewalttätig – wenn auch nur gegen Sachen. Und dennoch ist er offensichtlich ein Fall für Tochterliebe. Warum ist das so?

Der Vater hat seine Gründe für sein Verhalten, er sollte eine mehrdimensionale Figur werden, die zum Teil ihren Affekten hilflos ausgeliefert ist (vor allem, wenn es um das Horten geht). Das Thema Gewalt wollte ich mit der Differenziertheit nicht entschuldigen, sondern eher durch den Blick der Erzählerin die ambivalenten Gefühle darstellen, die ein Kind eines gewalttätigen Elternteils haben kann. Gleichzeitig wird der Vater damit auch entmachtet. Die Erzählerin erkennt in ihm als Erwachsene seine eigentliche Hilflosigkeit.

Der Vater hat wie gesagt ein messiehaftes Verhältnis zu Sachen. Warum sind Dinge ihm so wichtig? Weil sie für etwas stehen, was ihm sonst nicht erreichbar wäre: ein solider Status zum Beispiel?

Nein, um Status geht es ihm nicht. Sonst würde er sich ja bemühen, einen Geschmack zu entwickeln. Die Dinge, die er hortet, sind aber eher willkürlich, zum Teil sind es sogar kaputte Sachen. Sie stehen für den Vater eher für Sicherheit. Das Behalten alter Sachen ist der Versuch, einen Status quo zu erhalten, den es nicht mehr gibt; das neue Kaufen ist die Illusion, etwas retten zu können, „schön zu machen“, eine Ablenkung von Verlustgefühlen. Eben eine Ersatzhandlung.

Materiell geht es der Familie ja nicht schlecht, prekär ist eher ihr Selbstwertgefühl. Nicht nur in „Streulicht“ geht es immer wieder um das Gefühl von Scham. Menschen, die arbeiten, Geld verdienen, ihr Kind aufs Gymnasium schicken, könnten doch eigentlich stolz sein. Die, die sich schämen müssten, tun es in der Regel nicht, warum schämen sich Menschen wie die Erzählerin und ihre Familie?

Auch die Scham kann ein Machtinstrument sein. Anderen zu suggerieren, dass etwas an ihnen peinlich sei, lässt sie verstummen, zwingt sie zum Rückzug. Und um noch mal konkret auf die Romanfiguren einzugehen: Da liegt die Scham weniger im gesellschaftlichen Status als in der Angst vor jeglicher Emotionalität, das ist mehr eine Art Hemmung dem eigenen Leben gegenüber. Zumindest ist das die Dynamik, die für mich die Vater- und Großvaterfigur haben. Für mich ist es auch ein Generationenproblem, dieses Schweigeprinzip, und eine Zurückgezogenheit, die die beiden auf die Spitze treiben.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach in diesem Land verändern, damit die erwähnte Ausgrenzung und Diskriminierung überwunden werden?

Das müsste eine Mischung aus strukturellen und persönlichen Veränderungen sein.
Es müsste auf institutioneller Ebene unmöglich gemacht werden, dass es Ausgrenzung in dieser materiellen Form gibt. Und es ist erforderlich, dass jede Person ihr eigenes Verhalten hinterfragt, dort, wo es relevant ist. (Ersteres kommt mir vom Prinzip manchmal so einfach vor, dass ich mich frage, warum das anscheinend niemand will.)

Das Autorinnendasein

Zum Schluss noch zu Ihrer „Karriere“. „Streulicht“ ist ihr Debütroman, Sie sind aber mit zahlreichen Veröffentlichungen und Auftritten durchaus eine erfahrene Autorin, die den Roman-Erfolg vermutlich richtig einzuschätzen weiß. Was hat sich dennoch mit dem Erfolg und seinen Folgen für Sie und Ihr Schreiben verändert?

Ich habe mich vor der Veröffentlichung wirklich sehr angestrengt, alles loszulassen, was mit Öffentlichkeit zu tun hat, und mich ganz darauf zu konzentrieren, was Erfolg eigentlich für mich bedeutet. Diesen Text unbeirrt zu Ende zu schreiben, war der erste und wichtigste Erfolg, dann keine Kompromisse einzugehen, was meine Prinzipien angeht, und dann die Veröffentlichung an sich. Dass der Text die Möglichkeit bekommen hat, bei Leuten anzukommen, die ihm vielleicht etwas abgewinnen können.

Dass sich jetzt aber darüber hinaus noch ein Erfolg eingestellt hat, lässt sich nicht leugnen. Zunächst bedeutet der für mich, dass ich mich erst mal nicht um finanzielle Sachen sorgen muss. Dass ich ein Plateau erreicht habe, auf dem ich mir den Luxus gönnen kann, durchzuatmen und dann in Ruhe weiterzuschreiben, ohne dieses Drängen im Hinterkopf, das mich bei „Streulicht“ manchmal begleitet hat („du musst dein Bafög zurückbezahlen, was zur Hölle machst du da??“). Aber dieses Plateau bedeutet natürlich auch eine gewisse Fallhöhe. Das kann einem erst mal Angst machen, aber ich besinne mich darauf, dass es eigentlich dieselbe Situation ist: Ich habe es in der Hand, ob der Text gut wird oder nicht. Und ich arbeite nicht für den Erfolg, sondern der ist die zweitrangige Folge aus der Arbeit.
Und es hat sich außerdem verändert, dass ich jetzt nicht mehr wie ein verrückter Hallodri wirke, wenn ich den ganzen Tag irgendwas aufschreibe. Wenn ich jetzt sage, ich bin Schriftstellerin, dann habe ich wenigstens Beweise.

Wird einem das eigene Buch im Lauf der Zeit fremd? Haben Sie überhaupt noch Lust, Fragen dazu zu beantworten? Zum Beispiel die Frage danach, wie autobiografisch das Buch ist?

Fremd ist wohl nicht das richtige Wort, eher kann ich mit der Zeit besser analytisch auf den Text blicken, es entwickelt sich eine Distanz, die auch angenehm ist. Ich kann zum Beispiel manche Aspekte, die ich im Moment des Schreibens ganz intuitiv eingebaut habe, jetzt auf ihren Stellenwert prüfen. Und dann fällt mir auf, dass manchmal wirklich der Text schlauer war als ich selbst in dem Moment, was auch beruhigend ist.

Die Frage nach dem Autobiografischen beantworte ich immer wieder, allerdings bringt es eigentlich kaum was. Jeder Versuch, da irgendwas abzugleichen, muss scheitern, weil es ein Kategorienfehler ist. Je öfter und nachdrücklicher ich das betone, desto weniger wird mir zugehört, ich nehme an auch aus Enttäuschung, deshalb lasse ich es an dieser Stelle. Wenn es jemandem hilft, daran zu glauben, dass im Text „alles wahr“ ist, dann bitte.

Es wird ja gern behauptet, das zweite Buch sei das schwerste. Wie arbeiten Sie nach dem Debüt-Erfolg und der damit verbundenen Öffentlichkeit und Unruhe weiter?

Genau wie vorher: mich fragen, was das Drängende ist, und nicht ins Internet gehen.

Liebe Deniz Ohde, vielen Dank für das Gespräch – und natürlich für „Streulicht“! 

Zuletzt geändert am 5. Mai 2023