Winter

von Rieke Geldmacher

Draußen war ein Winter gewesen, der den Bildern, die wir früher vom Winter gehabt haben, nicht einmal entfernt glich. Der Wind wirbelte die grauen Ascheflocken, die bereits auf dem Boden lagen, durcheinander und hüllte die Welt in ein Tuch aus Grau und Einsamkeit. Dieser Winter war nicht wie früher, und ich musste zusehen, wie die Lande Meryns in tiefe Asche gehüllt wurden. Hätten wir nur früher etwas unternommen, wäre alles anders gewesen, dachte ich, doch so war es nicht.

„Ethan“, ihre dünne Stimme ließ mich den Blick von dem kleinen Fenster abwenden. Sie saß auf der gegenüberliegenden Fensterbank des kleinen, kerkerartigen Raumes, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn die Jäger aus waren, um etwas Essbares aufzutreiben. Eine Fackel brannte an der abblätternden Steinwand. Ein Tisch stand in der Mitte, gestern hatte Zyll noch versucht, ein karges Essen auf diesem anzurichten. Doch die Jäger hatten nicht mehr viel auftreiben können, so hatte der Hunger ihn uns gestern Abend genommen. Das Feuer in der Kochnische war arschkalt und die Glut erloschen.

„Was ist, Ria“, brummte ich, war jedoch nicht wirklich bei ihr. Meine Augen schweiften wieder über das karge Land außerhalb des Fensters. Sie sollten längst wieder da sein. „Mach dir keine Sorgen um sie“, Rias grüne Augen leuchteten, eine der einzigen Farben, die es hier zwischen der grauen Schneeasche und der feuerroten Glut noch gab. Grün wie das Gras, dass seit Jahren keiner mehr gesehen hatte, grün wie die Bäume, die es früher massenhaft in Meryn gegeben hatte. Lebendig!

„Sie kommen immer wieder“, erinnerte mich Ria, „sie werden schon nicht erwischt.“ Sie sprang von der Fensterbank, als sie den Raum durchquerte, wehten ihre roten Haare hinter ihr her. Woher nahm sie diese Kraft? Sie war mindestens genauso lange wie wir schon an diesem trostlosen Ort. Sie packte meine Hand. Ich schüttelte sie in einer hastigen Geste ab. „Lass das endlich, Ethan“, protestierte sie, und trat näher. Ich runzelte die Stirn: „Was denn?“ „Jegliche Art von Nähe von dir zu weisen“, erwiderte sie energisch, „als würde sie dich verletzen.“ Ich schluckte schwer. Ria wusste nichts über mich, außer, dass auch ich zu den Ausgestoßenen gehörte, die hier in der letzten Zuflucht Unterschlupf fanden. Mehr würde ich auch nicht zeigen. Und sie hatte keine Ahnung, wie sehr Nähe wirklich stach. Seit sie die Flucht nicht geschafft hatte. „Du hast keine Ahnung, Ria, du bist jung und naiv“, gab ich kalt zurück. „Wenigstens lebe ich noch und bin nicht innerlich schon halb tot!“, meinte sie leise, zog sich aber wenigstens ein bisschen zurück. Ich konnte Ria nicht ab. Diese warme offene Person. Die verdammte Hoffnung, die sie allen um sich herum ausstrahlte. Diese Lebendigkeit, wenn sie durch die Zuflucht sprang, als hätte sie keine Sorgen.

„Hast du denn gar nichts durch diese Hetzjagd verloren, Ria“, zischte ich, „weißt du denn überhaupt nicht, wie sich Schmerz anfühlt?“ „Wie kannst du es wagen?“, sie wirbelte herum. Ihre Augen schienen im Licht der Fackel zu glühen. Kein Wunder, sie gehörte immer noch zu uns, trug die Magie in sich, wegen der wir verrufen waren, wegen der wir hier waren. Nur hatte ich sie bis jetzt noch nie gesehen. Wut passte nicht zu diesem hauchzarten Wesen, dass ich bis jetzt in Ria gesehen hatte.

„Wie kannst du dir einbilden, alle zu kennen, Ethan!“, entrüstete sich Ria, „weißt du, das ist dein größtes Problem! Würdest du nur ein bisschen mehr Nähe zulassen, würdest du uns wirklich verstehen, aber du kannst ja nicht anders.“ Ich spürte, wie meine eigene Magie in mir zu brodeln begann. „Und du bist besser, ja?“, fragte ich, meine Stimme so kühl, wie der Wind, der gegen unsere Fenster heulte. „Ja, tatsächlich, ich fühle wenigstens noch“, gab sie zurück, und wandte sich ab, „aber du verschließt dich vor allem, was irgendwie mit Gefühlen verbunden ist, weil du Angst davor hast, dich dem zu öffnen!“ Ich sah zu Boden, und sie hatte ja irgendwie Recht. Ich hatte Angst vor dem Schmerz, der mich auf der anderen Seite meiner Selbstisolation erwartete, und wenn ich die sorgfältige Mauer einriss, die ich darumgezogen hatte, würden alle sehen, wie sehr ich wirklich litt. „Ich geh einfach anderes damit um, Ria, find dich damit ab“, brummte ich. „Dir ist nicht zu helfen!“

Sie ging zurück durch den Raum und zog sich auf die gegenüberliegende Fensterbank, dann starrte sie wieder aus dem Fenster. Ich starrte nachdenklich auf ihre roten Locken, dann blickte ich wieder aus meinem eigenen Fenster und dachte darüber nach, wie die Winter früher gewesen waren.

Zuletzt geändert am 23. Oktober 2025