Ein Jahr und fünfzig Weinflaschen

von Emma, Greta, Janina, Philine

Als Vika eine längere Atempause in ihrer langweiligen Geschichte einlegt, dreht sich Marie zu mir um und fragt: 
„Warum setzt du dich eigentlich auf Jos Platz?“
„Marie, Jo ist seit einem Jahr weg. Vielleicht sollten wir einfach weiter machen. Er kommt sowieso nicht wieder.“
Marie blickt mich traurig an, während Vika probiert, mich mit ihren Blicken zu töten.
„Entenarsch, das macht Marie traurig“, faucht sie und zündet sich die dritte Zigarette an.
Jo war im letzten Jahr mit einem Brief an Marie verschwunden. Angeblich hatte er nur eine kurze Pause gewollt. Jetzt sind wir ein Jahr und 50 Weinflaschen später.
Marie will es vielleicht nicht wahrhaben, doch Jo wird nicht wiederkommen.
Manchmal stelle ich mir vor, dass er es bis zu Rewe geschafft hat, dass er etwas im Leben erreicht hat.
Can steht am Grill. Er lässt das Gemüse, Gemüse sein und steckt sich eine Zigarette an. Alle drei rauchen wie Schornsteine.
Can dreht sich zu Marie:
„Hör doch endlich auf, Jo hinterher zu trauern.“
„Lass das, Can! Ihr könnt das nicht verstehen“, faucht Marie.
Can schmeißt die Kippe auf den Boden und dreht sich ruckartig zu ihr. Wenn er seine Zigarette wegschmeißt, wird es ernst.
„Weißt du was, Marie? Wenn du so sicher bist mit Jo, dann lass uns ihn suchen.“
„Und woher willst du wissen, wo Jo ist?“
„Na ja, Briefe haben Absender“, sagt Can.
„Das haben wir doch probiert! Sind ja nicht vollkommen beschränkt!", brüllt Vika von ihrem Platz aus.
„Das Haus 63 in der Müllerstraße gibt es nicht!", fügt Marie schluchzend hinzu.
„Aber es gibt das Haus 36, da fangen wir an!", sagt Can. 

Als Can und ich bei Haus Nummer 36 klingeln, öffnet uns eine Frau in den Vierzigern.
„Entschuldigung, wir suchen unseren Freund Jo. Wohnt der hier?", frage ich vorsichtig.
„Ach sie meinen Johannes Schmidt? Der ist gerade am Arbeiten bei Rewe.“
Es gibt nur einen Rewe in der Stadt und da gehen wir jetzt hin.

Der Rewe ist dreimal so groß wie der Penny und besteht fast nur aus großen polierten Glasscheiben. Durch die Glasscheibe, vor der wir stehen, kann man direkt in die Gemüseabteilung schauen. Alles ist Bio. Das würde in unserem Penny nie so sein.
„Das ist doch Jo!“, brüllte Can neben mir.
Jo ist gerade dabei, eine überteuerte Bio Paprika einzuräumen. In seiner flecklosen Rewe Uniform sieht er wie ein Schnösel aus. Nachdem er die Paprika eingeräumt hat, dreht er sich zu einer großen Blondine. Wir denken, wir sehen nicht richtig, als Jo sie küsst.
Can schlägt mit der flachen Hand gegen die Scheibe.
„So ein Vollidiot!“
Ich sage gar nichts, der Schock ist zu groß und mein Hals wird enger.
„Can, dass muss auf jeden Fall unter uns bleiben. Marie darf das nicht erfahren, sie würde es nicht verarbeiten können.“
Can bleibt erstmal reglos, bevor er mir seinen kleinen Finger gibt: „Versprochen.“
Als ich mich umdrehe, sehe ich im Augenwinkel wie Jo uns erschrocken anstarrt. Ich schaue ihn enttäuscht an und drehe mich einfach um.

Zuletzt geändert am 1. Juli 2025