Gleichstellung: „Man wird ja wohl noch träumen dürfen“
Gleichstellung polarisiert. Es gibt kaum jemanden, der keine Meinung zum Thema Gleichberechtigung hat. Die Verschiebung von Machtverhältnissen, das Gefühl von Ungerechtigkeit, Verunsicherung durch Veränderung und Widerstand dagegen erleben und berühren die Menschen im Alltag und sorgen privat, politisch und öffentlich immer wieder für Diskussionen.
Wiebke Oncken ist bereits seit zehn Jahren die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt und verantwortet ein immer komplexer werdendes Feld. Renate Vossler ist seit 2001 dabei und steht ihr als Stellvertretung mit Rat und Tat zur Seite – ebenso wie drei weitere Kolleginnen und ein Kollege.
Gerechtigkeit und Chancengleichheit
Für beide bedeutet Gleichstellung Gerechtigkeit und Chancengleichheit. „Nicht alle haben die gleichen Bedingungen und Chancen im Leben. Verhärtete Strukturen, Rollenbilder und Stereotype können zu großen Hürden werden und beeinflussen die Lebensrealität“, sagt Wiebke Oncken. Das Gleichstellungsbüro hat die Aufgabe, jene Strukturen aufzubrechen, sowohl innerhalb der Stadtverwaltung als auch nach außen, an die Stadtgesellschaft gerichtet.
Gesetzlich verankert ist die Gleichstellung im Grundgesetz seit 1949: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Im Jahr 1994 folgt eine Nachschärfung, um auch Taten zu sehen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Oldenburg war da bereits auf gutem Weg: 1988 wurde das Frauenbüro gegründet, mit Annette Fischer als erste Frauenbeauftragte. Nach der Jahrtausendwende löste Kornelia Ehrhardt sie ab. Als Oncken 2014 übernahm, wurde aus dem Frauenbüro das Gleichstellungsbüro, um zu verdeutlichen, dass Gleichstellungsarbeit kein reines Frauenthema ist.
Care-Arbeit: Familiensache statt Frauensache
Wiebke Oncken verdeutlicht die Wichtigkeit der Gleichstellungsarbeit anhand der Aufteilung von Arbeitszeiten innerhalb einer Partnerschaft. Die niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen ist weiterhin ein strukturelles Problem. Dass Männer früher Vollzeit arbeiteten und die Familie finanziell versorgten, war meist nur deshalb möglich, weil von Frauen erwartet wurde, sich um Haushalt und Kinder zu kümmern und maximal in Teilzeit zu arbeiten. Als Konsequenz folgt die Altersarmut von Frauen, weil für Care-Arbeit keine auskömmlichen Rentenbeiträge gezahlt wurden und bis heute nicht werden. Ein Beispiel für Benachteiligung durch das Geschlecht. Dabei könnten beispielsweise beide Elternteile je 30 Stunden arbeiten.
Dieses Beispiel zeigt zudem, dass Gleichstellung nicht nur Frauen ermächtigen, sondern auch Männern Möglichkeiten eröffnen will. „Mit der Männerarbeit bemühen wir uns, typische Männerbilder zu hinterfragen. Ein Mann darf auch fürsorglich, empathisch und unterstützend sein. Aktive Vaterschaft, Gesundheitsprävention und das Aufbrechen von Rollenbildern sind wichtige Themen“, so Wiebke Oncken. Unter anderem deshalb hat das Gleichstellungsbüro seit Februar mit Sören Koselitz einen Kollegen im Team, der sich der Männerarbeit widmet.
Rollenbilder von Kita bis Karriere
„Die Sozialisierung eines Menschen beeinflusst die Identifikation mit der gesellschaftlichen Erwartung an das eigene Geschlecht stark“, sagt Renate Vossler. Es fängt in der Kita an, wenn Mädchen beim Küchendienst helfen und Jungen gezielt aufgefordert werden, die Stühle zu tragen. Oder „Mädchen“ als Schimpfwort benutzt wird. „Unbewusst und bewusst führt die Gesellschaft diese Rollenbilder fort und erzieht Kinder so, wie sie sich entsprechend ihres Geschlechts zu verhalten haben. Später äußert es sich in der Berufswahl“, führt Vossler den Gedanken zu Ende.
Innerhalb ihrer Zuständigkeiten und des gesetzlichen Rahmens, von der Kita bis zu internen Einstellungsverfahren, sensibilisiert das Gleichstellungsbüro zu geschlechtsspezifischen Themen und greift wenn nötig auch ein. „Wir handeln weisungsfrei, damit wir möglichst unbeeinflusst arbeiten können“, so Renate Vossler.
Zahnarzthelfer und Feuerwehrfrauen
Oftmals polarisiert Gleichstellungsarbeit, indem sie Menschen einen Spiegel vorhält. Niemand sieht sich gerne mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert. Renate Vossler kennt das: „Beim Zahnarzt neulich habe ich das erste Mal überhaupt einen Zahnarzthelfer gesehen. Ehrlicherweise musste ich mir eine lobende Bemerkung verkneifen. Denn das trägt wenig zur Normalisierung eines Zahnarzthelfers bei.“
Alteingesessenes zu hinterfragen, Missstände abzubauen und neue Strukturen einzuführen ist mit viel Mühe, Zeit und Kraft verbunden. Die erste Feuerwehrfrau einzustellen war nicht einfach, aber wichtig: „Die Pionierin hat es meistens am schwersten, da sie Veränderungen mitbringt. Aber sobald die veränderte Situation akzeptiert ist, wird es einfacher und neue Strukturen werden umgesetzt.
Für die Gleichstellungsarbeit braucht man eine hohe Frustrationstoleranz, Geduld und Beharrlichkeit. Es läuft nicht immer alles glatt und Veränderungen kommen nur langsam, aber es lohnt sich auf lange Sicht allemal“, so Wiebke Oncken.
Steter Tropfen höhlt den Stein
Der Erfolg der Gleichstellungsarbeit ist schwer messbar. Ob in einem Jahr die Anzahl von Frauen auf Führungspositionen geringfügig gestiegen ist, ist wenig ausschlaggebend für die Frage, ob alle wirklich gleichberechtigt sind. Wann ist Gleichstellung also gelungen? Wiebke Oncken und Renate Vossler finden: wenn Gleichberechtigung über alle Geschlechter hinweg tatsächlich gelebt wird. Daran ist jede und jeder beteiligt. Der Einfluss des Gleichstellungsbüros geht nur soweit, wie sich Individuen darauf einlassen, umzudenken.
Je nach politischer, sozialer und zeitgeschichtlicher Lage ist die Gleichberechtigung der Geschlechter von Fort- und Rückschritten geprägt. Oncken und Vossler sind jedoch überzeugt, dass sie langsam aber sicher voranschreitet. Veränderungen auf gesetzlicher Ebene finden nach und nach im Alltag und in den Einstellungen Einzug und treiben den Wandel voran. Und vielleicht gibt es in hundert Jahren keinen Bedarf mehr für ein Gleichstellungsbüro. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Zuletzt geändert am 1. August 2025